stimmt aber nicht, weil Radzyner bereits 1927
geboren wurde. Auch ihr Mann, Viktor Niu¬
tek Radzyner, war fünf Jahre älter als ange¬
geben. Und der Mann, der in Wien „einen
Wäschereibetrieb mit mehreren Filialen“ be¬
saß, war nicht der Großvater, sondern der Vater
Viktor Niutek Radzyners. Großvater war er aus
der Perspektive von Tamars Töchtern, die von
ihm berichteten.
Wer ein Schiff bauen will
„Wenn du ein Schiff bauen willst, dann tromm¬
le nicht Männer zusammen, um Holz zu be¬
schaffen und Arbeiten einzuteilen, sondern leh¬
re die Männer die Sehnsucht nach dem wei¬
ten, endlosen Meer.“ Mit diesem Zitat von
Saint-Exupery eröffnete der Historiker, Publi¬
zist und Direktor der Volkshochschule Wien¬
Hietzing, Robert Streibel, vor einigen Jahren
eine Kunstausstellung. Dieser Gedanke scheint
auch Leitmotiv für seine nun erstmals veröf¬
fentlichten lyrischen Arbeiten zu sein.
Robert Streibel ist bekannt als Historiker, ver¬
öffentlicht seit mehr als zwanzig Jahren For¬
schungsarbeiten zu Nationalsozialismus, Ju¬
dentum, Exil, Oral History; ist Initiator von
Gedenkaktionen zum jüdischen Friedhof in
Krems, zu den Juden in Hietzing und Eugenie
Scharzwald. Als Literaturkritiker arbeitet er für
diverse österreichische Medien.
Seine eigene Lyrik präsentiert er, wie er sagt,
„nach 28 Jahren“. Spät? Nein. In seiner Lyrik
knüpft er den Bogen zur Aktualität, zur Ge¬
schichte, zum Jetzt, zu der Zeit, zur Verant¬
wortung. Das Erinnern, der Boden, auf den es
gerade ankommt, wenn man die Welt aus den
Angeln heben will, das ist Grundelemt auch
seiner Lyrik.
Das ist das Spezielle an diesen Gedichten. Der
Autor vergisst nie und bannt immer zugleich
den Moment in seiner Sinnlichkeit. Die Ge¬
dichte liegen jedoch nicht an der Leine der
Geschichte. Als Lyriker nutzt Streibel die
Freiräume der Verdichtung, der Verknappung
und operiert gekonnt mit dem Lyrischen Ich:
Ich freu mich so; Ich schlafe an die Wand ge¬
lehnt. Politische Bezüge finden sich immer
wieder, unaufdringlich, nie als Delegation der
politischen Forderung an Instanzen, immer als
eigenes Engagement und nie ohne kritische
Prüfung des eigenen Tuns. Ich habe vieles
geändert/ und frisiere mich oft./ Meine Wut
wirft keine Schatten mehr, so heißt es in den
Abschlusszeilen von „Che & Co“. Hier fragt
einer nach, lässt den Historiker erkennen: Die
Toten liegen unter den Büchern, Die Erbschuld
bleibt als Bodensatz. Zugleich werden weder
Subjektivität noch Naturbilder gescheut: Der
Lavendel in Ketten, der Salbei versperrt; im
Nabel der Sonne; die Luft wie mit Seife ge¬
waschen, oder wenn dumpfer Wind kräuselt die
Erinnerung. Abgestottert wird hier nicht, auch
wenn so der Titel eines Gedichtes lautet:
Am Abend keine Saite klingen will/ nur
trockene Flügelschläge/ zwischen den Bergen
und Tälern/ der Illusionen und Erinnerungen./
Der Papagei plappert wieder/ und das nicht im
Takt,/ und er ist nicht zu stoppen./ Er lernt un¬
bemerkt,/ er stiehlt Wörter/ aus dem Mund und
der Seele.// In Gefangenschaft lerne ich,/ müh¬
sam./ Ein Stottern/ für eine singende Freiheit.
Auch in dieser Lyrik gibt es ein Lächeln, dür¬
fen Geschichten sich in die Gedichte mischen.
Die „Erste Flucht“, die deutlich wie kaum ein
anderer Text das Gattungsübergreifende des
Autors veranschaulicht, den wissenden Blick,
die Ironie, die gekonnte Einfachheit und Viel¬
schichtigkeit der Streibelschen Sprachbilder zu
Tage bringt und Konkretheit einbindet in grö¬
Bere Bezüge.
Am Gründonnerstag kam/ ich in die große
Stadt/ kein Parsifal in schwüler Luft.// Vorher
noch nie alleine mit ihr,/ lächelte die wei߬
lackierte Kredenz/ in der Küchenenge/ über un¬
sere Schiichternheit.// Die Hand griff tief und/
schreckte vor dem pelzigen Schwarz zurtick./
Weiter kam ich nicht mehr:/ nur direkt zum
Bahnhof.// In die Stadt bin ich später / dennoch
zurückgekehrt.
Im Zug der Zeit/ für die anderen Mitreisenden
keinen Blick. Auch wenn ein Gedicht „Blind“
heißt, blind wird hier nicht geschrieben. Keine
Gedanken über den Fahrplan, das passt in die
Kontinuität der Bilder, der Reisebilder, hinter
denen der klare Fahrplan jedoch sehr wohl zu
erkennen ist. Im Reisen, „in dem Unterwegs¬
sein, dem Ausloten und Benennen des Raums“
findet auch der Verlag seinen Zugang zu
Streibels Lyrik, die er als „Reiseliteratur‘‘ prä¬
sentiert. Das „Kursbuch Liebe“ gibt eine Orien¬
tierung, „Landen“ oft nur mit einem Blick, und
manchmal „Sieben Schritte in den Raum der
Stille“.
Marianne Gruber, eine der beachtlichsten
SchriftstellerInnen der österreichischen Ge¬
genwart, sagt über Streibels Lyrikband: „Der
Raum, er ist wörtlich zu nehmen. Streibels
Lyrik ist ein Benennen der Räume, in denen
man sich bewegt. Er schafft Stimmungsräume
mit oft lakonischen Feststellungen, verknüpft
Ironie mit Wehmütigkeit. Eine Lyrik, die
manchmal fast kunstlos schlicht wirkt. Darin
liegt dann wieder die Kunst.“ — Ein gutes Stück
Lyrik.
Gepackt
Ich habe in den Himmel geschrieben,
ohne Tränen und ohne Papier
den großen Wagen gepackt:
Viel ist es nicht.
Die Sehnsucht in der Nase,
die Trauer im Nacken
und den Schlüssel für das
Jetzt.
Monika Reif
Robert Streibel: Sieben Schritte in den Raum.
Gedichte. Wien: edition selene 2003. 73 §. Euro
14,90
Wanderungen in der
Ersten Republik
Trotz Nachkriegsinflation, trotz Arbeitslosig¬
keit und Not, trotz beginnendem faschistischem
Terror: was war dies doch fiir eine kulturell rei¬
che, überreiche Epoche! Vergleichbar nur dem
Geist der vielgerühmten und publizistisch lei¬
der überstrapazierten Wiener Jahrhundert¬
wende. Wenn die Autoren dieses höchst ori¬
ginellen Wien-Führers, der einen drängt, in gute
Schuhe zu schlüpfen und loszumarschieren, im
Titel den Wiener Kreis hervorheben, dann greift
dies im Grunde zu kurz. Denn zum Wiener
Kreis, jenem Zirkel von Philosophen und Ma¬
thematikern, der sich seit 1924 unter der Lei¬
tung von Moritz Schlick zu regelmäßigen Dis¬
kussionsabenden traf, führt bloß ein Teil der
vorgeschlagenen Spaziergänge. Wir gelangen
nämlich in die Nähe fast aller bedeutenden
Gelehrten und Künstler dieser Zeit, soferne sie
demokratisch in Gesinnung und Werk waren.
Denn es handelt sich, wie gesagt, um die Erste
Republik und nicht um den späteren Stände¬
staat oder gar die braune Diktatur. Ein Großteil
dieser Frauen und Männer, ob jüdisch oder
nichtjüdisch, ist spätestens 1938/39 aus Wien
geflüchtet. So der gesamte Wiener Kreis und
sein wissenschaftliches Umfeld, die Philoso¬
phen Otto Neurath, Rudolf Carnap und Edgar
Zilsel, die Psychologen Karl und Charlotte
Bühler, die Mathematiker Kurt Gödel und Hans
Hahn, der Physiker Erwin Schrödinger, die So¬
ziologen Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld, um
nur einige zu nennen. Bestimmt wäre auch Mo¬
ritz Schlick geflohen, hätte ihn nicht schon zwei
Jahre früher ein rabiater Student auf der
Philosophenstiege der Uni Wien abgeknallt.
Aber eben nicht nur die Wissenschaftler ver¬
ließen die Stadt, wir finden unter den Exilanten
die bedeutendsten Künstler der Zeit wie Elias
Canetti, Theodor Kramer, Oskar Kokoschka,
Robert Musil, Hermann Broch, Franz Werfel,
Ernst Krenek, Erich Wolfgang Korngold, ein
wahres Who was Who in Vienna!
Die Autoren: Volker Thurm, der auf Recher¬
chen und Gestaltung des „Begleitbuches“ vie¬
le Jahre verwandt hat, ist Architekt von Beruf.
Und das ist ein wahrer Vorteil, denn die Wiener
Architektur hat nicht, wie mancher meint, mit
dem Jugendstil geendet, und Thurm versteht
es, die Baukunst der Republik ins Bewußtsein
zu heben. Elisabeth Nemeth, Professorin der
Philosophie an der Universität Wien, steuert
einen Aufsatz bei, den man vor Antritt der er¬
sten Stadtwanderung gelesen haben sollte, ge¬
wiß aber nachher lesen wird. Drei Sätze dar¬
aus habe ich mir notiert: „‚Wer den kulturellen,
sozialen und politischen Hintergrund des Wie¬
ner Kreises beleuchten will, merkt sehr
schnell, daß es sich dabei um ein Phänomen
handelt, das nicht ein für alle Mal fest umgrenzt
werden kann. Es handelt sich um eine hete¬
rogene Gruppe mit unscharfen Rändern. Sie
gehörte zu einem teils dichter, teils lockerer ge¬
knüpften gesellschaftlichen Netz, in dem Indi¬
viduen und Gruppen versuchten, das Projekt