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gen Trip geschickt hatten und daß ich die ganze Zeit über
fürchtete, beim Niichternwerden in das grinsende Gesicht ei¬
nes Mannes mit einem SS-Abzeichen am Revers blicken zu
müssen.

Die Familie war schließlich im Jänner 1939 ein letztes Mal in
London vereint, ehe der Vater nach Paris zurückkehrte. Die
Mutter folgte ihm im März 1939. Georg blieb zurück.

Wieder einmal setzte sich ein Zug in Bewegung und ver¬
schwand mit einem geliebten Menschen in der Entfernung.
Nur scheinbar war das Ziel des Zuges Paris, die Lichterstadt.
Das wahre Ziel beider Züge, der Bestimmungsort, dem meine
Eltern entgegenreisten, war das Tor mit den Worten „Arbeit
macht frei“, der Eingang von Auschwitz.

Nach dem Ausbruch des Krieges wurde Ernst Klaar in ei¬
nem Lager für feindliche Ausländer interniert, um schließlich
mit seiner Frau ein Bergdorf im unbesetzten Südfrankreich als
Aufenthaltsort zugewiesen zu bekommen. Der briefliche Kon¬
takt mit dem in Irland lebenden Sohn war über das neutrale
Portugal möglich. Im August 1942 begann das Vichy-Regime
ausländische Juden an die deutschen Behörden auszuliefern.
Im September 1942 erhielt Georg einen an seine Eltern ge¬
schickten Brief mit dem Vermerk zurück: ‚Adresse inconnu‘.

Meine Eltern, meine geliebte Mutter, mein geliebter Vater,
waren mit den Millionen „inconnus“ in die grauenvolle An¬
onymität unpersönlichen Massenmordes verschwunden. Ich
wollte weinen, aber ich konnte nicht. Viele Jahre lang nicht,
Ich versuchte, meinen Verstand auszuschalten, mein Herz zu
verschließen. Ich schrieb einen Brief an meinen Onkel: „Mei¬
ne Eltern sind tot, und ich will nicht wissen, wie und wo sie ge¬
storben sind.“

Nach dem Ende des Krieges erhielt Georg, der nunmehr als
George Clare in britischer Uniform auf den Kontinent zurück¬
kehrte, noch zwei handschriftliche Nachrichten ausgehändigt,
die sein Vater aus dem Sammellager Drancy bei Paris an sei¬
nen französischen Arbeitgeber geschickt hatte. Daraus geht
hervor, daß Ernst und Stella Klaar am 9. September 1942 Rich¬
tung Osten abtransportiert wurden, und daß sie sich über ihr
Schicksal keine Illusionen machten:

... leider fahren wir ohne Geld. Was werden wird, ist nicht
schwer zu erraten.

Georg Klaar, der sich 1941 freiwillig zur britischen
Armee meldete und seinen Namen 1943 in George
Clare änderte, ging im Jänner 1946 für die „Control
Commission for Germany“ nach Berlin, wo er unter
anderem mit der ‚Entnazifizierung‘ jener prominen¬
ten Mitläufer des Naziregimes — wie Furtwängler
oder Karajan — beschäftigt war, deren rasche Integra¬
tion in das öffentliche Leben politisch opportun er¬
schien. Im Zuge seiner Tätigkeit in Berlin lernte Cla¬
re auch den jungen Axel Springer kennen, der eine
Drucklizenz für die britische Zone erhalten hatte.
Zwischen den beiden Männern, deren familiärer Hin¬
tergrund kaum unterschiedlicher hätte sein können,
entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung.
Seit 1947 britischer Staatsbürger, trat Clare 1954 in
die Dienste Axel Springers, gründete 1959 den
„Springer Auslandsdienst“ und ging 1983 als Direk¬
tor der internationalen Abteilung des Verlagskon¬
zerns in Pension. Im Laufe seiner beruflichen Tätig¬
keit in England 1963-1983 bekleidete Clare außer¬

dem die Funktion des Präsidenten der „Overseas Press and
Media Association“, war Vorstandsmitglied der „Deutsch¬
Britischen Handelskammer“ und Präsident der britischen Sek¬
tion der „International Advertising Association“.

1989 erschien Clares zweites Buch unter dem Titel „Berlin
Days 1946-1947", in dem er nicht nur seine Tätigkeit für die
“Control Commission for Germany“ beschreibt, sondern auch
ein eindrucksvolles Stimmungsbild des Berlin der unmittelba¬
ren Nachkriegszeit zeichnet. Darüberhinaus schildert Clare in
diesem Buch seine erste Rückkehr nach Wien im Jahr 1947
und spannt damit den Bogen zur Familienchronik „Letzter
Walzer in Wien“. Über seine Rückfahrt von Wien nach Berlin
schreibt Clare:

Zum zweiten Mal in meinem Leben, aber mit einen ganz an¬
deren Gefühl, bestieg ich in einen Wiener Bahnhof einen Zug
nach Berlin. 1938 bedeutete dies das Verlassen der Heimat.
Nunmehr bedeutete es lediglich das Verlassen einer unheim¬
lich vertrauten, fremden Stadt.”

George Clare wurde von seiner alten Heimat niemals zur
Rückkehr eingeladen. Er lebt in England, ist Gastkommentator
deutscher Zeitungen und arbeitet derzeit an seinem ersten Ro¬
man über den Aufstieg und Fall eines Zeitungszaren im alten
Österreich, in den er seine reiche berufliche Erfahrung im
Presse- und Verlagswesen einbringt.

Anmerkungen

1 Zu Leben und Werk von George Clare siehe auch: S. Bolbecher/K.
Kaiser: Lexikon der österreichischen Exilliteratur. Wien 2000, 143.
2 Vgl. Totenbuch Theresienstadt, hg. von Mary Steinhauser und
dem Dokumentationsarchiv der österreichischen Widerstandes. Wien
1987.

3 Das waren die Klaars. Spuren einer Familie. Übersetzung aus dem
Englischen, erschienen bei Ullstein 1980, 320 S. Spätere Auflagen
unter dem Titel „Letzter Walzer in Wien“. Auch in Frankreich, den
USA, England, Italien, Brasilien, Japan und Israel erschienen.

4 Dieses und die folgenden Zitate stammen aus George Clares Buch
„Letzter Walzer in Wien“.

5 Berlin Days 1946-1947. London 1989.

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