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Von September 1941 bis Jänner 1943 wurde Leningrad von
der deutschen Wehrmacht belagert. Sechzehn Monate war die
Stadt fast vollständig vom Hinterland abgeschnitten, so daß ei¬
ne Versorgung mit Lebensmitteln nur in einem sehr einge¬
schränkten Maße erfolgen konnte. Erst im Jänner 1943 konnte
der Belagerungsring durchbrochen werden. Bis Jänner 1944
blieb Leningrad jedoch Frontzone und somit in Reichweite der
deutschen Artillerie. Ungefähr eine Million Menschen sind
während der deutschen Belagerung an Hunger, Kälte, Artille¬
riebeschuß oder durch Fliegerangriffe ums Leben gekommen.
Die Verluste der Roten Armee an der Leningrader Front belie¬
Jen sich auf 979.254 Tote und 1,947.770 Verletzte und Seu¬
chen-Erkrankte (vgl. „Sowjetische Militärenzyklopädie“,
Ba. 1, Moskau 1990).

„Hundertfünfundzwanzig Gramm“ ist ein Kapitel aus dem
Roman „Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur“, der im
Februar 2001 im Franz Deuticke Verlag, Wien, erscheinen
soll. Vladimir Vertlib wird übrigens im Februar 2001 in Mün¬
chen mit dem Förderungspreis des Adelbert-von-Chamisso¬
Preises ausgezeichnet.

Im Dezember 1941 beginnen wir, die Tapeten von den Wänden
zu reißen. Der Tapetenkleister läßt sich abkratzen und zu einer
magenfüllenden Brühe verkochen. Viele Menschen sind gestor¬
ben, weil es ihnen von dieser Kost die Gedärme zerrissen hat.

Die Katze Murka hatten wir zu diesem Zeitpunkt schon ver¬
speist. Kostik erschlug sie mit dem Hammer, während Schelja
sie festhielt und weinte.

„Meine kleine Murotschka“, flüsterte sie, „bald ist alles
vorbei. Du kommst in den Katzenhimmel. Dort gibt es viel
Fisch für dich. Den ganzen Tag kannst du Lachs, Kabeljau und
Karpfen essen. Der Katzengott selbst ist ein Wal, an dem du
immer knabbern kannst, und die angebissene Stelle wächst
von selbst nach.“

Die Katze miaute und versuchte sich zu befreien. Als Ko¬
stik mit beiden Händen den Hammerstiel umfaßte — er war zu
schwach, um den Hammer mit einer Hand zu halten - und aus¬
holte, verstummte Murka, wand sich, biß und kratzte nicht
mehr, sah zu uns auf, als suchte sie Zeichen des Erbarmens und
des Mitleids in unseren Gesichtern, und plötzlich wurde mir
klar, daß sie verstand.

„Fisch!“ schrie Sche]ja. „Fisch!“ Ihre kleinen Finger glitten an
Murkas räudigem Fell und den hervorstehenden Rippen ab. Ich
drückte den Hals des Tieres gegen den Parkettboden. Endlich
schlug Kostik zu. „Fisch!“ schrie Schelja. „Fisch! Fisch! Fisch!“

Sie brauchte einige Zeit, um zu begreifen, daß die roten Fle¬
cken auf ihren Armen Murkas Blut waren. Dann ließ sie den
noch zuckenden Körper aus und kroch heulend ins Bett. Ich
wagte nicht, sie anzurühren.

„Fisch?“ Unsere Nachbarin Maria Petrowna stand in der
Tür. „Ich habe etwas von Fisch gehört. Wo haben Sie Fisch
aufgetrieben, Rosa Abramowna?“

Als wir Murka kochten, mußte ich, mit Küchenmesser und
Besenstiel bewaffnet, die Nachbarn von der Küche fernhalten.

Zweihundertfünfzig Gramm Brot Tagesration für Arbeiter,

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hundertfünfundzwanzig für Kinder und Angehörige. Das
Mehl ist mit Sägespänen versetzt. Manchmal Zuteilungen ge¬
ringer Mengen von Schokolade und Butter, von Breikörnern
und Milch, immer weniger und immer seltener. Ich schneide
das Brot in viereckige Würfel. Ein Würfel zum Frühstück, ei¬
ner zu Mittag, einer am Abend. Den größeren Teil gebe ich den
Kindern. Wir rösten es am Feuer und trinken heißes Wasser
dazu. Tee haben wir schon seit langem keinen mehr. Im Herbst
konnten wir noch Brennesseln und alte Kohlblätter sammeln
und daraus Suppe kochen. Ich fuhr durch die halbe Stadt, weil
es irgendwo gerüchteweise noch Grütze, Milch oder sogar
Kartoffeln zu kaufen geben sollte. Nach stundenlangem
Schlangestehen erwies sich das Gerücht als falsch.

Unser Geld ist nichts mehr wert. Wir könnten es genau so
gut verheizen oder als Klopapier verwenden. Nur Gold, Edel¬
steine oder eine gute Uhr kann man am Schwarzmarkt gegen
Lebensmittel tauschen. Es gibt kein elektrisches Licht, kein
Heizmaterial, kein fließendes Wasser mehr. Die Leitungen
sind eingefroren oder geplatzt. Wir schöpfen Wasser aus dem
Fluß oder holen frischen Schnee von der Straße. Wenn wir
schlafen gehen, ziehen wir die Mäntel nicht aus. Draußen am
Fensterbretter zeigt das Thermometer vierzig Grad unter Null.
Der kälteste Winter seit Jahrzehnten. Ich hacke die Stühle und
den Tisch zu handlichen Holzscheiten und schiebe sie in den
kleinen gußeisernen Ofen, der bei uns im Zimmer steht. Nach
dieser Arbeit atme ich schwer wie nach einem Marathonlauf.
Nachdem die Möbel aufgebraucht sind, verheizen wir die Bü¬
cher. Einige wenige werfe ich nicht ins Feuer, weil mir sonst
das Herz brechen würde und ich nicht weiterleben könnte.

Mein Verlag hat die Produktion eingestellt. Jetzt arbeite ich in
einer Munitionsfabrik am Fließband, wo Geschoße für Flieger¬
abwehrkanonen hergestellt werden. Auf dem Weg zur Arbeit
gehe ich an jenen vorbei, die es nicht mehr geschafft haben und
versuche, nicht in die lächelnden Gesichter der Toten zu schau¬
en. Wer zu Hause stirbt, wird in Decken gewickelt und auf Kin¬
derschlitten gelegt. Hunderte, Tausende Schlitten Tag für Tag.
Fast immer sind es Frauen, die durch den Schnee zu den Fried- °
höfen der Stadt stapfen. Die Männer sind an der Front oder
schon tot. Männer sind schwächer. Sie sterben zuerst.

Am frühen Morgen gehe ich aus dem Haus. Skistöcke in der
Hand, weil ich sonst nicht mehr die Kraft zum Gehen hätte. Ich
schwanke hinaus in die Dunkelheit der belagerten Stadt. We¬
gen der feindlichen Flugzeuge darf kein Licht brennen. Wie
durch ein Labyrinth taste ich mich vorwärts. Schwarze Fle¬
cken der Häuser gegen den mattgrauen Himmel, schwarze Fle¬
cken der Toten auf dem mattblauen Schnee. Und das Heulen
des Windes durch die leeren Fenster, Gänge und Stiegen der
ausgebombten Häuser. Wenn es heller wird, sehe ich die Ein¬
schußlöcher in den Mauern, herabhängende Leitungen,
Schneewehen, die bis zu den Fenstersimsen der Ersten Etage
reichen, ausgebrannte Straßenbahnen, Lastkraftwagen, Busse
und Menschen, die sich zur Arbeit schleppen gleich mir, ernst
und still.

In der Fabrik gibt es Strom. Bald ist mir wärmer als zuhau¬
se. Gegen Mittag erhalte ich eine Suppe. Wenn ich nur nicht