men mich zurück nach Budapest, um mich in das dortige jüdi¬
sche Gymnasium einzuschreiben. Für Gymnasialschüler war
damals das Tragen einer Mütze mit dem Wappen der Schule
Pflicht, und ich war mächtig stolz, als ich am ersten Schultag
im Herbst 1939 allein zum jüdischen Gymnasium in Budapest
gehen durfte. Kaum war ich in die Nähe des Gymnasiums ge¬
langt, als mich Schüler eines Nachbargymnasiums als „stin¬
kenden“ und „schmutzigen“ Juden beschimpften. Meine Mit¬
schüler taten so, als ginge sie das nichts an. Mich trafen diese
Zurufe und vor allem die Untätigkeit der Erwachsenen, die
nichts dagegen taten und ruhig zuhörten, wie ein Schlag. Ich
sah keinen Unterschied zu dem was ich in Baden bei Wien ein
Jahr zuvor erlebt hatte. Besonders schlimm empfand ich den
ungarischen Chauvinismus der Juden, der sich auch in der
Schule manifestierte. Später erst begriff ich, daß sie mit Weh¬
mut zurückdachten an die Monarchie, als das ungarische Kö¬
nigreich wert darauf legte, daß sie sich bei der Volkszählung
als Ungarn deklarierten.
In der Religionsstunde lernten wir, Gott sei allmächtig und
gut und wir Juden seien auserwählt. Wie kommt es, so fragte
ich mich im Sommer 1938, daß er all dies, was uns geschah,
zuließ? Im Garten auf einem Baum sitzend, wandte ich mich
während eines Gewitters an den Himmel und bat ihn, mich
doch mit einem Blitz zu töten, denn ich glaubte nicht mehr an
die Existenz Gottes.
Nur 13 Monate danach machte ich eine zweite Entdeckung:
Ich bin kein Ungar. Wenn ich auch in Budapest als Jude be¬
schimpft werde, wo soll es da einen Unterschied zu den Öster¬
reichern geben? Da halfen alle Beteuerungen der lieben Ver¬
wandten nicht, das sei ja nur der Pöbel, der da schimpft, da half
auch nicht der Stolz meiner Verwandten, daß schon ein Ur¬
großvater für Ungarn gekämpft hatte. Ich war und blieb ein
Ausgeschlossener und daraus folgte: Es macht keinen Sinn zu
lernen. Das verkündete ich auch meinen Mitschülern. Doch
damit nicht genug. Jeden Samstag vormittag mußten wir die
Synagoge der Schule besuchen, um in einer uns damals unbe¬
kannten Sprache Gebete anzuhören. Ich versicherte meinen
Mitschülern, es gebe keinen Gott, und wir, die man be¬
schimpft, seien auch sicher nicht auserwählt. Eines Tages im
Frühjahr 1940 sprach mich ein Mitschüler an und meinte, es
gäbe eine Gruppe, die ähnlich denke wie ich, und lud mich zu
einer Feier in die Wohnung seiner Eltern ein. So kam ich zur
zionistischen und linkssozialistischen Jugendbewegung Ha¬
schomer Hazair, die unter einem Decknamen aktiv war.
1941 starb nach längerer Krankheit meine Mutter. Da mein
Vater Reisender war, mußte ich schon als 12jähriger oft genug
allein zurecht kommen. Mangels Aufsicht hörte ich überhaupt
auf zu lernen, bis ich im Halbjahr 1942 in drei Gegenständen
durchfiel. Im Frühjahr eröffnete der Direktor meinem Vater, er
hätte die Wahl mich aus dem Gymnasium zu nehmen, oder ich
müsse die Klasse wiederholen. Er machte aber auch ein Ange¬
bot: Sollte ich eine Lehrstelle haben, dann würde er mich nicht
durchfallen lassen. Mein Vater verabreichte mir eine Tracht
Prügel, doch ich war glücklich, nicht mehr zur Schule gehen zu
müssen. Gerade zu dieser Zeit wurde ich von meinem Erzieher
in der Jugendbewegung gefragt, ob ich bereit sei, nach Palästi¬
na zu fahren. Spontan kam meine Antwort, ich würde auch auf
allen Vieren dorthin kriechen, wenn es nur eine Möglichkeit
gäbe, aus Ungarn wegzukommen.
Vaters, der Direktor des lokalen Wasserwerkes und Inhaber
einer Holzhandlung war. Eines Tages frühstückte ich allein
mit Onkel Arthur, der seinen Namen von Pfeifer auf Puskäs
magyarisieren hatte lassen, und machte ihm den Vorschlag,
doch alles zu verkaufen und nach Rumänien zu flüchten. On¬
kel Arthur fragte, weshalb er denn dies tun sollte. Meine Ant¬
wort schockierte ihn: in Polen bringe man die Juden mit Gas
um. Er herrschte mich an: „Ich war ungarischer Offizier im
Krieg und wurde von Kaiser Karl mit einem Kreuz ausge¬
zeichnet“, und erklärte: „Hier ist nicht Polen, hier herrscht eine
tausend Jahre alte christliche Kultur.‘ Ich sagte — wie es sich
für einen armen Verwandten ziemte -: „Du bist erwachsen und
mußt wissen, was du tust, ich bin ja nur 13 Jahre alt, aber ich
vertraue nicht.“
1994 hielt ich am Holocaust-Tag im Rathaus von Sopron ei¬
ne Rede und erwähnte diesen Vorfall. Meine Rede wurde im
Holocaust-Gedenkbuch gedruckt, und zwei Jahre später er¬
hielt ich einen Brief aus Chicago, ein Neffe der Frau meines
Onkels Arthur hatte Auschwitz und die Zwangsarbeit in
Deutschland überlebt und erinnerte sich an meine Warnungen
aus dem Jahr 1942. Nie wieder sollte ich Onkel Arthur, seine
Frau und seine drei Kinder sehen. Von ungarischen Gendar¬
men in einen Viehwaggon gepfercht, wurden sie in Auschwitz
ermordet.
Die konservativen Machthaber Ungarns argumentierten nach
dem „Anschluß“, sie könnten mit judenfeindlichen Maßnah¬
men den extrem Rechten „den Wind aus den Segeln nehmen“.
So wurden im ungarischen Parlament seit 1939 mit Billigung
der christlichen Kirchen mehrere Juden diskriminierende Ge¬
setze beschlossen, womit sie die extrem Rechten ermunterten,
deren Agitation immer radikaler wurde. Aber das war nur das
Vorspiel. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen am 19.
März 1944 wurden Hunderttausende ungarische Juden mit tä¬
tiger Beihilfe der ungarischen Behörden binnen sechs Wochen
nach Auschwitz deportiert. Nur wenige überlebten.
Ende 1942 nahm der Zweite Weltkrieg eine günstige Wen¬
dung für die Alliierten und Ungarn versuchte mit diesen zu
verhandeln. 50 jüdische Kinder im Januar 1943 nach Palästina
ausreisen zu lassen, war eine Geste, die nicht viel kostete. Am
5. Januar 1943 verließen wir Ungarn. Ich sollte meinen Vater
nie wiedersehen. Nach Monaten, die er in einem Keller ver¬
steckt verbracht hatte, wurde er im Januar 1945 von der Roten
Armee befreit. Zwei Tage später starb er an Herzschlag und
wurde in einem Massengrab verscharrt.