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ten, doch der Pfad verliert sich im Gebüsch. Sie stolpert nur über Ziegelsteine, bleibt stehen, und die Wände des alten Hauses beginnen plötzlich vor ihr zu empor zu wachsen. Erschöpft läßt sie sich in den Rollstuhl fallen, und der junge Mann bringt sie in das kühle Betongebäude zurück, in dem es nach Krankenhaus riecht. Noch bevor sie das Tor erreichen, ist sie eingeschlafen. Sie wacht in einem engen Raum ohne Fenster auf. Die weiß gestrichenen Wände glänzen im milchigen Licht der Deckenbeleuchtung. Einige Schritte von ihr entfernt sitzt jemand. Im ersten Moment glaubt sie, es sei ihr Spiegelbild. Früher hat sie sich gerne im Spiegel betrachtet, hat die langen, hellbraunen Haare gebürstet, auf die sie so stolz war. Selbst als junge Frau ist sie etwas pummelig gewesen, doch entsprach das dem damaligen Ideal. Ihr Mann schätzte üppige Formen mehr als schlanke Taillen. Als der Schlankheitsund Abspeckungswahn um sich zu greifen begann, war sie schon zu alt, dem Diktat der Mode zu folgen. Sie erinnert sich, wie ihr Mann ihre Wangen, ihre Brüste, ihre Hüften gestreichelt hat, aber den Vornamen des Verstorbenen hat sie vergessen. Es fällt ihr nur der Name ihres Vaters und eines jüngeren Bruders ein. Die Person ihr gegenüber ist nicht ihr Spiegelbild, sondern ein Mann, dessen linke Gesichtshälfte verunstaltet ist, so als hätte ihm ihm ein kräftiger Gegner einen Faustschlag versetzt. Der linke Mundwinkel hängt herunter, das linke Auge ist unnatürlich groß und starr. Frau Sonnenschein steigt aus dem Rollstuhl, nähert sich dem Mann, hebt seinen linken Arm hoch, läßt ihn wieder los, hebt ihn, läßt ihn los. Der Arm fällt herab wie ein lebloses Stück Fleisch, schaukelt vor und zurück. Dann rüttelt sie am Rollstuhl des Mannes, löst die Bremsvorrichtung. Der Mann schüttelt den Kopf, versucht, sie mit der gesunden Hand wegzustoßen. Das Gefährt rollt in einem Halbkreis Richtung Wand. Frau Sonnenschein muß an einen Pferdetramwaykutscher aus ihrer Kindheit denken, dessen Gesicht nach einem Unfall entstellt war und der auf seinem Kutschbock ähnlich wie der Mann im Rollstuhl hin und her wippte. Als ihre Tochter klein gewesen war, hatte sie sie oft in den Armen gehalten, geschaukelt und ein altes Wiegenlied gesungen. Wie schön wäre es, mitzuschaukeln im Takt dieser rhythmischen Bewegungen. Die Räder des Gefährts quietschen leise und machen ein ähnliches Geräusch wie jene der großen Leiterwagen, die vor dem Krieg durch die Stadt fuhren. Es war leicht, auf einen solchen Wagen aufzuspringen. Die Fahrer - kräftige Bauernburschen, die gern scherzten und flotte Sprüche machten — hatten meist nichts dagegen. Manchmal war sie auf den Kutschbock geklettert und hatte mit dem Fahrer geflirtet. Wenn dieser unverschämt wurde, ihr zum Beispiel an den Busen griff, sprang sie wieder ab. Der Rollstuhl erinnert sie plötzlich an die Fuhrwerke von damals. Sie könnte hinaufklettern und sich neben den Mann mit dem entstellten Gesicht setzen. Wenn er ihr an den Busen greift, wird sie nicht abspringen. Es ist, als wäre sie von mehreren Pferdehufen getroffen worden, doch der Schmerz kommt von innen. Sie läßt den Rollstuhl wieder los, greift um sich. Ein tiefer Spalt öffnet sich und verschlingt den Rollstuhl und den Mann. Der grüne Linoleumboden und die weißen Wände schweben davon und verfärben sich rosa, bevor sie in weiter Ferne zerfallen, sich in rosa Pulver verwandeln und auflösen. Für den Bruchteil einer Sekunde ist sie ganz allein, hört und sieht nichts, nur ihre Gedanken werden auf einmal klar. Sie weiß, wer sie ist, wo sie ist, erinnert sich wieder an alle Ereignisse und Namen. Sie glaubt, daß nun ihr Leben in seiner gesamten Länge vor ihren Augen ablaufen wird. Aber es geschieht nichts dergleichen... Stattdessen reißt der Gedankenfluß wie ein alter Film. Mbayabo Mulamba Bruno Schrei des Herzens! An der Wiege der Menschlichkeit gehe ich nach Osten. Ohne andere Wahl gehe ich weg. Der du mich zu dem gemacht hat, was ich bin, wer bist du? Du hast mich von meinen Nächsten getrennt, um mein Herz zu bestrafen, wer bist du? Von der Wiege der Menschlichkeit, wo ich träumte vom großen Theater, bin ich nun hier auf der Bühne des Lebens, und alles ist neu. Ob ich es wollte oder nicht, man taufte mich auf den neuen Namen: Flüchtling. Name der Erniedrigung oder der Ehre? Ohne Hoffnung taumle ich vom Sprachkurs zum Reinigungsdienst und vom Reinigungsdienst in die Küche. Wann geht mein Stern auf? Ich glaube daran: Mein Garten ist eines Tages voll von Blumen, denn ich habe gepflanzt, ich muß nur noch gießen. Und dich nennt man Politik, eines Tages bist du besiegt und die Welt hat den Frieden, den sie wünscht. Ich bin in die Zeit der Leiden und Qualen geraten, aber meine Hoffnung und meine Heiterkeit gründen in meiner Überzeugung: Ich bin weder der Erste noch der Letzte in der Geschichte der Wanderungen. Sie haben die Menschheit immer begleitet. Das Gedicht wurde Mbayabo Mulamba Bruno, einem Flüchtling aus der DR Kongo, in französischer Sprache verJaßt und uns von Gabi Ecker vom Integrationshaus Wien übermittelt. - Der Verfasser wird von der Caritas Vorarlberg im Rahmen des Projekts „Don’t wait“, das AsylwerberInnen Zugänge zum Arbeitsmarkt schaffen soll, betreut. 49