auch Texte in Betracht, die entsprechend der
Methode „oral-history‘“ Auskunft geben - es
war ja nicht alles „hohe“ Literatur, was Ver¬
folgung eingebracht hat.
In den Kapiteln über den Holocaust und die
Deportationen in die Konzentrationslager zi¬
tiert er das Gedicht „An meine Brüder“, des¬
sen Entstehung und Überleben seinesgleichen
sucht: Es wurde von der Wiener Soziologin Dr.
Käthe Leichter im KZ Ravensbrück geschrie¬
ben, „as a means of maintaining her sense of
optimism“. Es umfaßt vier Strophen; hier die
dritte: „Bruder, stehst du auch des Tags mit der
Schaufel in der Hand,/ wird es nicht Mittag?
Nimmt denn kein End’ der Sand?/ Oder
schleppst auch du wie ich große schwere
Steine”/ Schmerzt auch dich der Rücken, bren¬
nen die Beine?/ Sieh, du bist doch ein Mann,
gewohnt an’s harte Schlagen,/ ich bin schwä¬
cher und mein Leib hat schon Kinder getra¬
gen./ Wie denkst du über unsrer Kinder Le¬
ben?/ Werden Schläge, Strafblock, stets als
Drohung schweben?/ Und dann geht es weiter
noch, im Herzen Hoffnung und Halt:/ Ich in
Ravensbrück, du in Sachsenhausen, in Dachau
oder in Buchenwald.“
Zum zehnjährigen Bestehen der Österreichi¬
schen Exilbibliothek im Literaturhaus widmete
sich das Erich Fried-Symposium 2003 dem
Thema „Geteilte Erinnerung“. Eine Ausstel¬
lung zeigte anhand von Porträts und Do¬
kumenten Familiengeschichten, eine Antho¬
logie mit demselben Titel versammelt Texte
mehrerer Generationen, behandelt Fragen der
Zugehörigkeit, der Sprache, auch des Bruchs
zwischen den Generationen, der oft durch das
Exil verstärkt hervortritt.
„Die einzige Überlebende der älteren Gene¬
ration, meine Großtante Mitzi mit ihrer eige¬
nen Geschichte, führte uns auf den Cobenzl
aus. Wir waren wie irgendeine Wiener Familie
an einem sonnigen Sonntagnachmittag, die
nach einem Morgenspaziergang im Wiener¬
wald ein gutes Mittagessen zu sich nahm.“ So
schildert Elisabeth Frischauf, die 1947 in New
York geborene Tochter der in die USA emi¬
grierten österreichischen Psychoanalytikerin
Else Pappenheim, ihre erste Reise nach Wien
als Kind. Man kann daraus ablesen, wie prä¬
sent die verlorene Heimat im Leben der
Emigranten sein muss, wenn sie in den
Vorstellungen ihrer Kinder dieses Gefühl der
Zugehörigkeit evoziert. Der in Bolivien gebo¬
rene Leo Spitzer übertitelt seinen Aufsatz
„Wien in La Paz“. Österreichisch-deutsche jü¬
dische Bürgerlichkeit mit Wiener Gaststätten,
die kulinarische und musikalische Genüsse der
fernen Heimat boten, europäische Schneider,
deutsche Buchhandlungen und Büchereien, ei¬
ne Musikschule, Kleinkunstbühnen und
deutschsprachige Sendungen im Radio schuf¬
en einen Mikrokosmos, der den Flüchtlingen
Käthe Leichter war als revolutionäre Sozia¬
listin schon im Ständestaat verfolgt worden
und nach der Annexion gelangte ihr Akt in die
Hände der Nationalsozialisten. Kurz darauf
wurde sie durch den Verrat des ehemaligen Ge¬
nossen Hans Pav von der Gestapo festgenom¬
men. Sie schrieb das Gedicht in einer Zeit, da
sie schwere Straßenbauarbeiten verrichten
und Ziegel auf Boote in der Havel verladen
mußte. Sie wurde im März 1942 in der Psy¬
chiatrischen Anstalt Bernburg/Saale ermordet.
Von dem Gedicht haben wir heute Kenntnis,
weil es eine junge Kommunistin, die Ravens¬
brück überlebt hat, auswendig gelernt hat. Sie
hat zumindest dieses eine Vermächtnis von Kä¬
the Leichter vor dem Vergessen bewahrt. Alle
anderen Gedichte und Aufzeichnungen sind
verloren gegangen oder vernichtet worden.
Eoin Bourke ging vielen Spuren nach, und es
gelang ihm, die unterschiedlichsten Werke
(Zitate) anschaulich und überzeugend mitein¬
ander zu verknüpfen und chronologisch zu ver¬
dichten (einerseits eine Chronologie des
Schreckens, andererseits aber auch eine des
Widerstands und der Menschlichkeit in einem
„einen gemeinsamen Identifikationsort im
Exil“ bot. Eine Integration im Gastland wur¬
de nicht angestrebt, der Aufenthalt nur als
vorübergehend angesehen, die schmerzhafte
Erinnerung an die Vertreibung von nostalgi¬
scher Sehnsucht getrennt.
Anders sehen heutige Emigranten ihre
Situation. Die aus Bosnien geflüchtete Schrift¬
stellerin Senada Marjanovit bezeichnet sich als
„glücklich in Berlin lebende Niederländerin“.
Ihre literarische Sprache ist Deutsch und auch
ihre Mutter lernt Deutsch, um die Freunde ih¬
rer Enkel zu verstehen. Catalin Dorian
Florescu lebt in der Schweiz und spricht
Schweizerdeutsch. Mit Rumänien verbindet er
nur Kindheitserinnerungen, doch ebendie sind
es, die ihn von seinen Schweizer Freunden
trennen, wenn er bei rumänischen Volksliedern
ins Schwärmen gerät. „Wenn ich Rumänisch
rede, fiihle ich mich geerdet.“ Auch Arbeits¬
emigranten wie der Wissenschafter Rolf
Schwendter, die Journalistin Susanne Scholl
kommen zu Wort.
Ein wesentliches Moment des Exils ist die
Sprache. Auffällig ist, dass Emigrantenkinder,
die in die Heimat der Eltern zuriickkehren, oft
als Studienfach Anglistik wählen, während je¬
ne, die im Exilland bleiben, Germanistik stu¬
dieren. „Meine eigene Beziehung zum
Deutschen war von Tabu und Sehnsucht ge¬
kennzeichnet“, bekennt Carol Ascher, die ih¬
re Bücher in englischer Sprache schreibt. Sie
wuchs in einer Kleinstadt in Kansas auf. Ihre
Mutter war bestrebt, ihre Dankbarkeit ge¬
genüber dem Gastland zu beweisen, aber als
Flüchtlinge, die mit Akzent sprachen, fremde
bestialischen System). Das Resultat ist eine
Geschichte Österreichs zwischen 1938 und
Mai 1945, erzählt und gestaltet mittels Dich¬
tung und Prosa. Bourke, geboren in Dublin, hat
nach unruhigen Wanderjahren in München
Germanistik studiert und ist derzeit Professor
am Department of German der Universität
Galway. Er ist mit der Mentalität und Literatur
Österreichs seit Jahrzehnten vertraut. Gerade
weil ihm Österreich so viel bedeutet, hat ihm
dieses Thema unter den Nägeln zu brennen be¬
gonnen. Als Ire, mit dem Blick von außen, hat
er längst erkannt und anerkannt, was so manch
österreichischer Germanist noch ignoriert
oder leugnet, aus Kalkül, aus ideologischen
Gründen oder aus tatsächlicher Unwissenheit.
Dem Buch ist, nicht zuletzt aus diesen Grün¬
den, eine Übersetzung ins Deutsche zu wün¬
schen.
Richard Wall
Eoin Bourke: The Austrian Anschluss in
History and Literature. Dublin-Galway: Arlen
House 2000. 138 S.
Gewohnheiten hatten und keiner Religion zu¬
gehörten, wirkte die Familie auf ihre klein¬
städtische Umgebung exotisch.
Besonders gravierend ist das Beispiel von
Stephane Moses, der als Kind in Berlin mit
deutscher Muttersprache aufwuchs, in der er¬
sten Station des Exils in Amsterdam Hollän¬
disch lernte, schließlich in Rabat eine franzö¬
sische Schule besuchte. Seine Familie erhielt
nach dem Krieg die französische Staatsbürger¬
schaft, doch bei Familienzusammenkünften
schwärmte die Elterngeneration weiterhin
von Thomas Mann und Richard Wagner.
Erkennbar wird in diesem Querschnitt der un¬
terschiedliche Umgang mit der Exilsituation,
gemeinsam ist allen das Anderssein, das
Fremdsein oft in beiden Welten. Die Erin¬
nerung teilt, d.h. trennt, die Familien in Gene¬
rationen, jene, die sich an Gelebtes erinnert,
und jene, die das kollektive Gedächtnis in sich
trägt. Gleichzeitig trennt sie die jüngere
Generation von der gleichaltrigen im Gastland,
die über andere Erinnerungen verfügt. Es ist
das Verdienst des Buches die Problematik der
Generationen des Exils aus vielfältigen Per¬
spektiven zu beleuchten. Die Schwierigkeit der
zweiten und dritten Generation, eine eigene
Identität zu entwickeln, die beide Welten
zulässt, bleibt auch im 21. Jahrhundert ein ak¬
tuelles Thema.
Susanne Gföller
Christina Kleiser, Ursula Seeber (Hg.):
Geteilte Erinnerung — Generationen des Exils.
Wien: Czernin Verlag 2003. 192 S. Euro 16,¬