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nicht mehr gesehen und erkannt wird, aus Klasseninteressen und
aus Schutzbedürfnissen entstanden und mussten unter Verhält¬
nissen, wie sie die beiden Diktaturperioden und die Nachkriegs¬
zeit hervor gebracht hatten, wieder wirksam werden. Ich gewann
den Eindruck, dass die Menschen nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs eher über Verfehlungen wie die des Dr. Neumayer,
also im Bereich der Kollaboration, hinwegzusehen bereit wa¬
ren, als dies heute der Fall ist. Sie hatten den Druck und die
Versuchungen, denen sie selbst und ihre nächste Umgebung aus¬
gesetzt gewesen waren, wohl noch besser im Gedächtnis.

Es war wohl 1970 oder 1971, als Neumayer, bis dahin in der
Wohnungseigentum-Bewegung des Wiener ÖVP-Gemeinderates
Franz Prinke tätig, bei Dr. Paul Schärf vorsprach. Der Anlass:
Neumayer erhielt von der „Wiener Städtischen“ eine kleine
Pension, die der Versicherung eigenartigerweise vom Rathaus
rückerstattet wurde. Dieses mysteriöse Arrangement musste noch
vor der Rückkehr Norbert Liebermanns als Generaldirektor der
„Wiener Städtischen‘ getroffen worden sein, denn Liebermann,
der Neumayer als die Personifizierung der Nazi-Herrschaft in
der Versicherungsanstalt ansah, hatte einer solchen Vereinbarung
sicher nie zugestimmt.

Neumayer war also zu Scharf (er war zweites Vorstands¬
mitglied und für Personalangelegenheiten zuständig) gekom¬
men — den er ja auch als ehemaligen Mitarbeiter kannte —, um
eine Erhöhung der Pension zu erwirken. Da die Pension in
Wirklichkeit aber vom Rathaus bezahlt wurde, wandten wir uns
an den im Rathaus dafür zuständigen Personal-Stadtrat Kurt
Heller, der sich bemühte, in dieser doch etwas delikaten Ange¬
legenheit eine Stellungnahme des „Rathauses“ zu erlangen. Ich
glaube, mich zu erinnern, dass unsere Gespräche und die Be¬
mühungen Hellers um eine Entscheidung weit über ein Jahr dau¬
erten, ohne daß es Heller gelang, irgendeinen Zuständigen in
dieser Angelegeheit im Rathaus zu finden. Schließlich wurde
entschieden, daß man es uns beiden, Schärf und mir, überlas¬
se, zu tun, was wir in dieser Angelegenheit für richtig hielten.
Im Rathaus hätte sich niemand gefunden, der sich mit dem Fall
Neumayer noch befassen wollte, der Akt wäre zu dick gewor¬
den — so zumindest lautete die Begründung uns gegenüber.

Da ich mir in der Zwischenzeit anscheinend den Ruferworben
hatte, ein ansprechbarer Mensch zu sein, kam Schärf eines Tages
nach einer Vorsprache Neumayers zu mir und meinte, Rudolf
Neumayer wäre schrecklich neugierig auf mich — ob ich ihn nicht
empfangen wolle. Da ich ebenfalls neugierig und interessiert
war, selbst beurteilen zu können, was für eine Person dieser mei¬
ner Vorgänger war, fanden seine weiteren Besuche, zwei oder
drei an der Zahl, nun bei mir statt. Um das Ergebnis dieser Ge¬
spräche vorwegzunehmen: Seine Pension wurde von uns ge¬
ringfügig erhöht — möglicherweise um die 1.000 Schilling her¬
um. Sie dürfte sich auch dann auf nicht mehr als 3.000 Schil¬
ling belaufen haben, was selbst damals sehr wenig Geld war,
doch dürfte es zu einer Auszahlung infolge des Ablebens Neu¬
mayers kaum mehr gekommen sein.

Jedenfalls hatten Paul Schärf und ich bei diesen Treffen nie
den Eindruck, dass es Neumayer bei seinen Interventionen wirk¬
lich um Geld ging, sondern vielmehr um die Möglichkeit, sich
auszusprechen, zu erklären, Rehabilitierung zu suchen. Das
machte das Gespräch mit ihm für mich auch so interessant. Es
handelte sich um die Geschichte Österreichs 1937/1938, des Ver¬
sicherungswesens und der „Städtischen“, die er erzählte, aller¬
dings gesehen, erlebt und erlitten von einer anderen Seite als
meiner.

Ich wurde seinerzeit gefragt, was Schärf- und in nächster Instanz
mich — veranlasst habe, Neumayer nicht einfach abzuweisen,
zugleich aber mit unserer Entscheidung doch sehr knauserig zu
bleiben? Nun - einerseits hatten wir nur einen Vorschlag zu ma¬
chen, in einer Sache, die uns alles andere als transparent und
doch auch als ein bisschen suspekt erschien. Anderseits kom¬
mentierte Schärf seine Haltung einmal so: Ohne Neumayer hät¬
te es wohl keine Fusion der „Städtischen“ mit der „Wiener Wech¬
selseitigen“ und dem „Anglo-Danubian-Lloyd“ gegeben, und
damit hätte eigentlich Neumayer die „Städtische“ erstmals zum
Konzern gemacht. Aufgrund der Informationen, die ich erhielt,
konnte Neumayer keine persönliche Untat und schon gar kei¬
ne Handlungen gegen die Interessen der „Städtischen“ vorge¬
worfen werden — eher das Gegenteil. Und doch war er ein Voll¬
zugsorgan des verbrecherischen NS-Regimes. Unsere Auffas¬
sungen waren also etwas ambivalent — so belieBen wir es bei
einer knauserigen Geste.

Was mich persönlich sehr berührte und mich veranlasste, mich
mit dieser alten Geschichte zu beschäftigen und mir im Do¬
kumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes Neu¬

Dr. Paul Schärf (1907 — 1994), von Jugend an Funktionär der
sozialistischen Mittelschüler, maturierte 1926, promovierte 1930
zum Drjur. und trat 1933 in die „Wiener Städtische“ ein. Im
Widerstand gegen den „Ständestaat“ und gegen die NS-Herrschaft
tätig (Beteiligung an der Aktion „Walküre“, 1944). 1940 zur deut¬
schen Wehrmacht, entzog sich u.a. durch eine Blinddarm-Operation
dem Fronteinsatz; im Oktober 1945 aus US-Kriegsgefangenschaft
zurück. Wieder bei der „Wiener Städtischen“, wurde er 1946 Leiter
des Personalreferats, war 1959 bis zu seiner Pensionierung 1974
Vorstandsmitglied, zuletzt mit dem Titel eines ,, Generaldirektors “,
betraut mit Repräsentationsaufgaben und den Verbindungen zu
staatlichen Stellen und zur Verstaatlichten Industrie. Als Ge¬
schäftsführender Vorsitzender der „Wihast“ setzte er sich für die
Errichtung von Studentenheimen für Arbeiterstudenten ein, Mit¬
glied der Aufsichtsräte der Creditanstalt Bankverein und der ÖMV.