zittert und zuckt schon seit Tagen nicht mehr, vielleicht heilt
Afrika? Sandtorte. — Augustin liest das Gedicht Rimbauds, wel¬
ches ihm Elsa aufeine kleine nackte Karte geschrieben hat, mit
einer Schrift, die seiner gleicht, die allen Schriften gleicht, die
in französischen Volksschulen vorgezeichnet werden. C’est la
mer allée... sie ist wieder gefunden/ Was? Die Ewigkeit/ Es ist
gegangen das Meer/ Mit der Sonne...
Bitte sag nicht, lieber Pastor, sag nicht, sie war jung, doch Gott
gibt und Gott nimmt, sag das nicht, am Tor und am Stein soll
niemand weinen, sag nichts, auch wenn Mutter und Vater von
ihrer Wolke herab darauf bestehen werden. Elsa wacht auf — ein
Alptraum. Nein, sterben werde ich noch nicht, noch lange nicht.
Im 21. Jahrhundert kann man lange mit meiner Krankheit le¬
ben, sehr lange, nein sterben werde ich noch nicht. Alpträume
werde ich wohl haben, da werden keine Beruhigungstabletten
helfen, keine Marthe, kein Augustin. Elsa Ritter steht in der
Nacht des Zimmers auf. Durch den Türschlitz dringt das ver¬
staubte Licht der Gänge, die zu Augustin, zum Schwestern¬
zimmer führen. Ob er schläft? Sie schleicht sich aus der Nr. 12.
Eine Orange färbt sich ihr entgegen. Ob die Schwester schläft,
die gute Schwester Augustin. Mit seinen zarten Lippen, die ge¬
stern geküßt wurden, die dabei so gezittert haben, so wie sie zit¬
tert, wenn sie erst zittert. Die so schüchtern waren, so zurück¬
haltend und zurückweichend, wie vor einigen Stunden ihr Träger
selbst, als er etwas hastig den Plastikbecher mit dem Wasser für
die Medikation gebracht hat, die nichts beruhigt, die nichts be¬
ruhigen wird. Er hat wohl Angst, alle Männer haben Angst.
Mentales Theater verschlungener Gänge in Männern und Kran¬
kenhäusern. Wie lang Gänge immer sind, hell, endlos hell und
ohne Halt. Wenn sich jetzt jemand in den Gang verirrt, was wird
er sehen? Mich. Einen Pyjama. Ein blasses Gesicht. Ein blas¬
ses Lächeln. Vielleicht, na und? Dann sieht er eben auch ein blas¬
ses Lächeln. Wenigstens bin ich nicht mehr so dürr. Ich sterbe,
sagen sie liebevoll verschlüsselt, schaue aber nicht sterbend aus,
noch nicht, noch lange nicht. Doch wer stirbt nicht? Was die
Schwester Augustin wohl in ihrem Schwesternzimmer macht?
Studiert sicher Grammatik und die Möglichkeiten einer Arzt¬
karriere. Ich werde mit ihm nach Dakar fliegen, zu Monsieur
Rubin und seiner mathematischen Pasta. Gleich nächste oder
übernächste Woche, dann, wenn ich genug Medikamente für
die nächsten Monate im Körper habe — man sagt, daß er sich
dann langsamer auflöst. Am Ende macht es dann aber doch puff
und ich zerplatze wie eine Seifenblase. In irgendwelchen Armen,
die mich lieben, als ob ich ewig leben würde — puff.
Augustin schläft, er liegt ausgestreckt auf der harten Schwe¬
sternzimmerbank. Die Schwester ist ganz schön schön. Ich wer¬
de in seinem Zimmer auf seiner senegalesischen Insel eine
Tortenrevue passieren lassen, eine Tortenschlacht, wie in dem
Film mit dem König, seinem Doppelgänger und den weltbe¬
wegenden und donnernden Automobilen... Eine Tortenschlacht,
die aus lauter mondänen Sternschnuppen besteht, welche im
Smoking ihre Nacht durchschwitzen und auf kleinen Flammen
tanzen, wie die, die in Marthes Gesicht brennen, wenn sie sich
vom 15jährigen Raymond verführen läßt. Schwester Augustin
wird staunen, wenn das Wachs und der Schlag auf seine zarte
Haut spritzen. Ha! Augustin wacht auf, sieht Elsa, sieht sie an
und setzt sich auf, sich sein blau-weiß gestreiftes Krankenpfle¬
gershirt zurecht rückend.
Oh Gott, wie rührt mich dies.
Du schläfst nicht? — Nein, ich rühre durch die Nacht, und du?
— Durch die Nacht rühren, sie macht schöne Metaphern, denkt
sich Augustin. — Was ließt du da, sie nimmt ein Buch vom Tisch,
Deutsche Grammatik, aufregend! Und was hörst du mit deinem
Walkman? Natacha Atlas, ah! Schön, schön. Ein Afrikaner, der
in Wien eine Araberin französisch singen hört und sich beim
Schwesterndienst durch die deutsche Syntax kämpft. Schön,
schön. Höre mir zu, nächste Woche sind wir in Dakar. Augustin
rafft sich auf, er hat nicht gut gehört - Wie? — Wir fahren näch¬
ste Woche nach Dakar, ich brauch doch noch solange, oder? —
Wohin, wann, was? Das geht doch nicht, t’es folle, vas! Augstin
lacht. Diese Wienerin ist wirklich etwas verrückt, die Schöne,
die Küssende und er, er ist nun verwirrt. Ich will es so. Sie ver¬
sucht arrogant und herrisch zu sein. Ich will es so! Genauso wie
Alima, die kleine Schwester, der, mit ihren fünf Jahren, kein
Ndiaye und kein Rubin der Welt ihre Nudeln verwehren kann
— ich will es so — Spaghettiberge über alle Berge. Sie will es
so. Augustin hat noch nie so ein leises und herrisches Bitte
gehört, noch nie eine so leise Hand auf seiner Wange gespürt,
sie ist so blaß. — Er hört auf verwirrt zu lachen. Herausgerissen
liebt er sie, liebt er sie, wie jemanden, der ewig leben wird. Und
sie wird ewig leben, so wie er. Es muß wohl an dieser Stelle
sein oder an welcher Stelle auch immer, an der sich jene Schlucht
aus Freude und Tod befindet, in die man sich hinein reißt, wie
in einen Traum aus verwunschenen Reisen und nie aufhören¬
den Tänzen. Augenblicklich. Elsas Gedanken schweifen kurz
aus dem Schwesternzimmer hinaus. Nein, sterben werde ich
nicht. Augustins Ja ist leise, es kommt aus einer Tiefe, aus je¬
ner Tiefe, die er längst verschüttet zu haben glaubt. Verschüttet
mit Verantwortung, mit lautem Bewußtsein um die Dinge der
Welt und mit den Geldscheinen für die monatlich zu bezahlenden
Miete im Krankenpflegerwohnheim im zweiten Wolkenkratzer
von links, wenn man die Reichsbrücke hinauf fährt, Richtung
Kagran, wo alles so glänzen will, wie die Moderne es verspricht,
wie die Münzen es versprechen, um die sich wöchentlich sein
Zimmergenosse Peter, Krankenpfleger aus Bratislava im
AKH, einen Lottoschein kauft. Ja, nächste Woche in Dakar. Und
wie in der dritten Nacht umhüllt Elsa ihre Martha, küßt sie sie
auf die dunkle Lippe, ins kurze Kräuselhaar, so schwarz wie ih¬
res, so schwarz wie der Atlantik sein wird, wenn sie dann in
einer Woche in St. Louis ankommen werden, am späten Abend,
in der frühen Nacht, vergessen habend, daß es Wien, den Kanal
und all diese Brücken gibt.
Alexander S. Emanuely, als Theaterkind 1973 in Innsbruck ge¬
boren, aufgewachsen in Wien und Paris. Im Besitz mehrerer
Pässe, darunter auch des französischen. Besuch des Lycée
Francais de Vienne und Studium in Wien. Redakteur von
„Context XXI“, Sprecher der LI CRA-Österreich; Mitorganisa¬
tor des Symposiums „Frauen im Widerstand gegen den National¬
sozialismus “ (Wien 2004). Schreibt Prosa und arbeitet derzeit
an einem Roman.