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drang, Opfermut und Leidensbereitschaft projizieren konnte, oh¬
ne dabei große Gefahr zu laufen, den Betroffenen persönlich
zu begegnen.

Heute sind es keineswegs mehr die „‚guten Seiten“ der eigenen
Identität, die man an den Nachbarn im Osten wiederzuerken¬
nen glaubt. Kriminalität, archaische Gesellschaftsstrukturen, pa¬
triarchales Denken, nationaler und religiöser Fanatismus, die
Diskriminierung von Minderheiten oder die Begeisterung für
autoritäre Führerpersönlichkeiten gibt es natürlich auch im
Westen. Doch was sich Jörg Haider vielleicht in seiner Phantasie
ausgemalt hat, wurde von Slobodan MiloSevi_ in die Tat um¬
gesetzt, Le Pens polternde Rhetorik hat Vladimir Putin (der ei¬
gentlich ebenfalls als Kriegsverbrecher auf der Anklagebank
sitzen müsste) zur Realpolitik erhoben, und verglichen mit
Vladimir Meeiar ist sogar Silvio Berlusconi ein Demokrat.

Der Krieg am Balkan war nicht einfach ein lokaler Konflikt,
er war auch unser Krieg. In Kärnten und einigen anderen Re¬
gionen Mittel- und Westeuropa findet das Gemetzel in den
Köpfen der Menschen seit Jahrzehnten statt. Wenn die Rahmen¬
bedingungen andere gewesen wären, hätten sie wohl auch zu
den Waffen gegriffen.

Der Blick auf scheinbare Kleinigkeiten kann ebenfalls in¬
teressant sein. Der billige Kitsch in einer typischen Moskauer
Wohnung war vor dreißig Jahren auch in Wien die Norm. In
manchen Teilen Osteuropas erinnern Kleinstädte heute noch an
die österreichische, deutsche oder italienische Provinz der
Dreißigerjahre, und an den wasserstoffblond gefärbten und in
eine Dauerwelle gepressten Haaren der polnischen Touristin,
die hierzulande bei vielen ein verächtliches Schmunzeln her¬

vorrufen, hätte vor ein paar Jahrzehnten niemand etwas aus¬
zusetzen gehabt. Der Zusammenbruch ideologisch geprägter
Grundwerte wurde durch die Fetische Business und Konsum
ersetzt. Die Gier nach altbekannten Statussymbolen wie dem
Besitz eines PkW oder eines Eigenheims als Endziel entbeh¬
rungsreicher Arbeitsjahre, der Urlaub in einer Betonburg am
Strand, kurzum, alles, was der „gebildete und fortschrittliche“
Westler überwunden zu haben glaubt, weil er schon genug Geld,
innere Autonomie und Sicherheit besitzt, um sich eine andere
Haltung leisten zu können und sein Leben zu ästhetisieren, emp¬
findet man im Osten noch weitgehend als gültige Norm. Was
dort noch begehrenswert erscheint, wird hier vielfach schon als
Ausdruck für die Banalität des Daseins oder die Tristesse des
Alltags gehalten. Als ich vor zehn Jahren meinen Cousin in St.
Petersburg besuchte, erstaunte es mich, dass er mit seinen dreißig
Jahren eine ähnliche Lebenseinstellung hatte wie mein Vater,
der zu jenem Zeitpunkt schon ein alter Mann war. Seit ein paar
Jahren lebt mein Cousin in Deutschland. Die Emigration hat ihn
zu keinem jüngeren Menschen gemacht. Seine Ziele und
Vorstellungen ähneln nun jenen der Eltern meiner österreichi¬
schen Freunde.

Osteuropa steht für die Aspekte unserer Identität, die wir ger¬
ne verdrängen oder überwunden zu haben glauben. Die Bereiche¬
rung, welche uns eine differenzierte Auseinandersetzung mit
der kulturellen Vielfalt unserer östlichen Nachbarn jenseits von
Projektionen und Klischees schenken könnte, findet nur im klei¬
nen Rahmen statt. Die Menschen im Osten sind uns zu nahe und
zu ähnlich, als dass wir jene dunklen oder unangenehmen Seiten
an ihnen, die auch unsere sind, als interessant oder
auch nur als verzeihbar empfänden. Sie sind uns zu
nah und zu fern zugleich, als dass sie uns als Spiegel
und als Wegbegleiter zur Selbstreflexion dienen
könnten. Das Fremde, in dem das eigene so stark ir¬
ritiert, verliert seinen Reiz. Da bliebt man lieber in
der eigenen Welt oder geht ganz aus ihr hinaus. Wozu
also einen Roman lesen, der in Bratislava spielt? Wo
liegt dieses Bratislava überhaupt? Was, nur sechzig
Kilometer von Wien entfernt? Eben!

Vor kurzem las ich in einer Wirtschaftszeitschrift,
dass das Pro-Kopf-Einkommen Sloweniens schon
höher sei als jenes Griechenlands oder Portugals.
Auch die Volkswirtschaften Tschechiens, Polens oder
Ungarns wachsen in einem Tempo, von dem man
hierzulande nur träumen kann. Die lobenswerten An¬
strengungen, die in Osteuropa unternommen werden,
unser Wohlstandsniveau zu erreichen und unseren
Lebensstil zu kopieren, werden nicht ohne Auswir¬
kung auf den Buchmarkt bleiben. Wenn der Osten
uns so weit eingeholt hat, dass die gesamteuropäische
Cappuccino-Kultur auch dort über die lästige Ver¬
gangenheit gesiegt hat und die neuen Armen sich ge¬
nauso verschämt gebärden wie bei uns, dann wer¬
den sogar jene einem in der Slowakei oder gar in
Weißrussland spielenden Roman etwas abgewinnen
können, die bisher neben heimischen vor allem ame¬
rikanischen, englischen oder schwedischen Produk¬
tionen den Vorzug gegeben haben.

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