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Schwarzmeerküste vor Anker. Während Nä¬
zım und Va-Nu hier auf die Überprüfung ih¬
rer Papiere warten, begegnen sie gerade aus
Berlin zurückgekehrten Spartakisten, türki¬
schen Arbeitern und Studenten, wie dem spä¬
teren Autor Sebahattin Ali, Sadık Ahi, Nafı
Atuf Kansu, Vehbi Sarıdal, welche die nase¬
weisen Neulinge mit Karl Liebknecht, Rosa
Luxemburg, Karl Kautsky und den Lehren
von Marx, Engels und Lenin konfrontieren
und später Karriere in der arrivierten kemali¬
stischen Republikanischen Volkspartei CHP
machen sollen.

Nach einem gewaltigen Fußmarsch von neun
Tagen durch das vom Befreiungskrieg zerrüt¬
tete, blutende Anatolien erreichen Näzım und
Va-Nu die Hauptstadt der provisorischen na¬
tionalen Regierung Mustafa Kemals, Ankara,
das noch einem Dorf ähnelt und vom Dichter
in seinem erwähnten autobiographischen Ro¬
man mit einer Arche Noah verglichen wird,
die in der Sintflut des Osmanischen Reiches
schwimmt. Noch, so der Dichter, leben Tau¬
ben und Schlangen, Wölfe und Schafe Seite an
Seite. Doch wenn einmal das rettende Eiland
erreicht ist, werden die Schlangen die Tauben
fressen und die Wölfe die Schafe. Er sieht es
voraus. Ankara, das sich von einem sumpfigen
Dorf auf historischem Boden (Ancyra, An¬
gora) in eine moderne europäische Stadt mit
Konservatorien, einer Oper, Konzertsälen
und Theatern, mit Ministerien, Parlament und
Universitäten mauserte, widmet Nazim Hik¬
met in dem Monumentalepos Memleketimden
Insan Manzaraları die Verse:

Im Ankara Gar’ der Friihling:/ Mit einer bei
der Bahnhofspolizei zunehmenden heimlichen
Beunruhigung,/ in einem Wartesaal der drit¬
ten Klasse mit Bauern und Bauarbeitern/und
in seinem Buffet mit einer an einen bauchigen
Lattich erinnernden Sehnsucht nach Istanbul
kommt er/ Der Ankara Gar ist sauber, ruhig
und vor allem neu./ Aber trotz der Helligkeit
des Marmors/ gibt es etwas so schwer (oder
so leicht) in Worte Faßbares in seinem Wind/
man darf nicht schreien, nicht laufen, nicht
laut auflachen im Ankara Gar/ So sehr, dap/
wenn er seine abfahrenden Ziige mit Haut¬
Parleurs laut ausruft,/ wenn der Mensch nicht
Acht gibt/ er verblüfft dasteht, wie wenn sie
ihm aus einer anderen Welt zuriefen.// [...]
Leer waren die Straßen:/ vielleicht eine frühe/
vielleicht späte/ vielleicht eine tote Stunde,/
vielleicht hat sich zurückgezogen hinter die
Gemäuer das Leben./ In Haufen/ in Schichten/
Marmor/ Beton/ und Asphalt./ Und Statuen/
und Statuen/ und Statuen,/ nur kein Mensch.
Ein Verwandter Näzıms namens Ismail Fazıl
Pasa genoß das Vertrauen Mustafa Kemals,
und wahrscheinlich bewirkte dieser ältere
Herr, daß die beiden jungen Dichter als Lehrer
nach Bolu und nicht an die Westfront bei
Sakarya geschickt wurden. Ismail Fazıl Paga
stellte die beiden Lyriker auch dem General
und Vorsitzenden der Nationalversammlung
Mustafa Kemal vor. Über diese Begegnung
schrieb Näzım Hikmet

Mein Herz schlägt wild. Ich sehe etwas Stahl¬

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blaues. Dann etwas Goldgelbes. Und dann
seine weißen, wohlgeformten Hände.
Mustafa Kemal soll die jungen Dichter in dem
kurzen Gespräch animiert haben, nicht im
Sinne von /’art pour l’art, sondern Gedichte
mit politischem Zweck, für den Befreiungs¬
krieg zu schreiben. Näzım und Va-Nu ver¬
faßten daraufhin einen bewegenden, polemi¬
schen Aufrufin epischen Versen zur Rettung
Anatoliens.

In seinen Memoiren berichtet Va-Nu, daß
Näzım Hikmet seit seiner Kindheit ein sehr
schlechtes Gedächtnis hatte und deshalb im¬
mer Papier und einen fingerlangen Bleistift in
der Hosentasche mit sich führte. Als er sich
einmal in Bolu eine neue, helle Leinenhose ge¬
kauft hatte und sie in einem Kaffeehaus Tee
tranken, soll er mangels Papier, das Va-Nu erst
nach einer Weile auftreiben konnte, ein Ge¬
dicht, um es nicht zu vergessen, sogar auf sei¬
ne Hose geschrieben haben.

In Bolu unterrichtete Näzım Literatur und
Malerei, Va-Nu hingegen Französisch. Mit
dem Kalpak am Kopf, jener etwas zylindrisch¬
steifen Wollmütze, wie sie damals die Mo¬
dernisten, Revolutionäre und Kemalisten tru¬
gen, und den an einen Österreicher erinnern¬
den, bis zur Höhe der Nasenflügel reichenden
Koteletten muß er die konservativ-religiöse,
reaktionär gesinnte Bevölkerung Bolus, die ei¬
nen der Reformlehrer zuvor schon gelyncht
hatte, provoziert haben. So ist es nur allzu ver¬
ständlich, daß sie nach nur acht Monaten, im
August 1921, mit von einem bolschewistisch
gesinntem Gouverneur ausgestellten Passier¬
scheinen Bolu verlassen und über Trabzon zu
Schiff nach Batumi in die Sowjetunion aus¬
reisen.

Auf dem Schiff steckt Nazim Hikmet zufällig
ein Stiick Zeitungspapier mit einem Gedicht
in kyrillischer Schrift ein, dessen Verse in selt¬
samer Treppenform angeordnet sind. Als er
auf der weiteren Reise nach Moskau ange¬
sichts der hungernden Menschen das Gedicht
Die Pupillen der Hungernden verfaßt, entsinnt
er sich dieses Zeitungspapiers, das er einge¬
steckt hat, und übernimmt die Treppenform
einfach. Erst in Moskau erfährt er, daß jenes
Gedicht in der Zeitung von Majakovskij
stammte.

In Moskau, das seit 1917 Intellektuelle aus al¬
ler Welt anzieht und sich zu einem Ex¬
perimentierfeld der Megalomanie in Archi¬
tektur, Kunst, Pädagogik und avantgardisti¬
scher Literatur mausert, in Moskau, dem ar¬
chimedischen Punkt, von dem aus die Men¬
schen die Geschichte neu schreiben und ge¬
stalten wollten, studiert Näzım Soziologie,
Politologie und Kunstgeschichte, und Va-Nu
unterrichtet als Dozent für Sprache und
Literatur an der Kommunistischen Universität
für Werktätige des Orients. Ende 1924 kehrt
Näzım in die Türkei zurück und beginnt für
die Zeitung Aydınlık (d.h. Aufklärung, Licht)
in Izmir zu arbeiten. Nach dem Abdruck des
Kampfliedes Lied der Sonnentrinker wird die
Zeitschrift 1925 verboten, Haftbefehle werden
fiir die Mitarbeiter ausgestellt, und Nazim geht

in den Untergrund. In Abwesenheit wird er am
12. August 1925 von einem Unabhängig¬
keitsgericht* in Ankara zu 15 Jahren Haft ver¬
urteilt. Die Rechtsgrundlage hiefür liefert ein
am 4. März 1925 zur Wahrung und Ver¬
teidigung der Errungenschaften der Republik
erlassenes Gesetz mit dem beruhigenden Na¬
men Takrir-i Sükun Kanunu. Näzım lebt in ei¬
ner einfachen Holzhütte mit einer im Erd¬
boden versenkbaren Druckerpresse. Allen
Warnungen zum Trotz geht er im Freien spa¬
zieren, wird von einem Hund aus der Nach¬
barschaft gebissen (deja entendu), fürchtet die
Tollwut, läßt sich medizinische Literatur be¬
schaffen, zählt fortan die Tage der Inkubation
und prüft allabendlich durch Anzünden eines
Streichholzes vor seinen Augen das Auftreten
von ersten Symptomen, wie der Photophobie.
Schließlich muß er über Istanbul doch wieder
in die Sowjetunion ausreisen. Dort verliebt er
sich im selben Jahr 1925 in die Medizin¬
studentin Lena Jurtschenko, der er als
Anuschka in Die Romantiker ein Denkmal ge¬
setzt hat. Während der folgenden Studienjahre
lernt Näzım Hikmet viele der großen Künstler
des neuen Rußland persönlich kennen, Sergej
Alexandrowitsch Jessenin, den Futuristen
Wladimir Majakovskij und die Konstruk¬
tivisten Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold,
Ilja Selwinskij und Eduard Bagrizkij. Als
Autor und Regisseur leitet Näzım Hikmet
selbst die Studentenbühne Metla, welches ein
Akronym für Moskaus einziges Leninistisches
Theater Arena darstellt und bezeichnender¬
weise Besen bedeutet.

Lena, der er die Cour macht, die er aber mit
einem chinesischen Studenten und Freund
„teilen“ muß, was er als Orientale nicht ak¬
zeptieren kann, stellt er vor die Wahl. Eine
1926 aus Anlaß der Feierlichkeiten der
Gründung der Türkischen Republik ausgeru¬
fene Amnestie ermutigt Näzım Hikmet, beim
türkischen Konsulat einen Paß für die Rück¬
reise zu beantragen. Lena erklärt sich bereit,