ihm nach dem Studium in die Türkei zu fol¬
gen, doch diese Liebe endet unglücklich. Sie
erhält in Odessa kein Ausreisevisum und stirbt
kurz danach an der Cholera. Vor seinem Tod
eröffnete Näzım Hikmet seiner Frau Vera
Tuljakova, daß er diese Nähe und dieses
Vertrauen nie mehr irgendeinem Menschen
gegenüber empfunden habe. Einmal erzählte
er Lena die Legende von dem Schilfrohr, das
von dem Mystiker Mevlana abgeschnitten
wurde, um daraus eine Flöte, die ney, zu ma¬
chen. Spielt man die ney, betrauert das Schilf¬
rohr seine Trennung vom Schilf. Dieselbe
Trauer scheint Näzım um seine verlorene
Jugendliebe gefühlt zu haben, dieselbe Sehn¬
sucht nach Vereinigung geht durch alle seine
Gedichte, die seine entfernte Heimat besingen.
Die Sehnsucht nach seiner Heimat, die er in
dem Mammutepos Menschenlandschaften
aus meiner Heimat oder Memleketimden
Insan Manzaraları verewigt hat und mit dem
Kopf einer sich in das Mittelmeer reckenden
Stute vergleicht, läßt ihn leichtsinnig werden.
1928 gibt er im aserbaidschanischen Baku den
Gedichtband Das Lied der Sonnentrinker her¬
aus, in dem hymnische Verse wie Es fließt ein
Strom/ zur Sonne, ein Strom/ Wir werden die
Sonne erobern/ Die Eroberung der Sonne ist
nahe ... erahnen lassen, warum das Erscheinen
dieser Zeilen in Aydınlık wenige Jahre zuvor
die rigorose Reaktion der türkischen Behörden
hervorrufen mußte. Im selben Jahr fährt er als
regulärer Passagier nach Hopa, der ersten
Hafenstadt an der tiirkischen Schwarzmeer¬
ktiste. Unterwegs liest er die Fragmente des
Heraklit und schreibt an dem Gedicht Mos¬
kovada Herakliti düsünürken (Während ich in
Moskau an Heraklit denke). Bei der Ankunft
fällt er einem Polizeibeamten auf, weil er ein
Buch unter dem Arm trägt. Da Näzım das Ge¬
dicht in alter, d.h. arabischer Schrift verfaßt
hat, versteht der neugierige Beamte Mosko¬
vada her akalliyeti düsünürken (Während ich
in Moskau an alle Minderheiten denke) und
läßt ihn festnehmen. Daß Näzım Hikmet be¬
teuert, Heraklit sei ein griechischer Philosoph
und keine Minderheit, bestätigt nur den Ver¬
dacht des biederen Beamten, einen Aufwieg¬
ler der Minderheiten vor sich zu haben. Also
noch dazu ein Grieche, soll der Polizist gesagt
haben. Aus dem Gefängnis, wo er acht Mona¬
te bis zu seiner Amnestierung verbringt, hat
Näzım seinem compagnon de route Va-Nu in
einem Brief gebeten, diese Anekdote für eine
spätere Biographie zu bewahren.
Das Urteil über die in der Aydinlik erschiene¬
nen Gedichte wird revidiert. In Summe ist er
fünf Monate zu viel oder umsonst inhaftiert
gewesen. Er arbeitet fortan in der von M.
Zekeriya Sertel editierten Literaturzeitschrift
Resimli Ay. Unter dem ikonoklastischen Titel
Putları Yıkıyoruz (Wir stürzen die Göt¬
zenbilder) polemisiert Näzım Hikmet 1929 in
einem programmatischen Gedicht gegen die
alte Garde der Diwanliteratur und läutet die
Zeit der Moderne, und Avantgarde in der tür¬
kischen Literatur ein. Im Mai dieses Jahres
kommen auch die Gedichtbände 835 Zeilen
und Za Gioconda und Si-Ya-U heraus. In 835
Zeilen setzt er den Begriff Zeile an die Stelle
des alten Wortes Vers, verwendet futuristisch
anmutende, revolutionär-romantische Meta¬
pher wie Sonnentrinker, Trauerweide und Das
Kaspische Meer, wobei Pathos gerade durch
die Verwendung der alltäglichen Sprache des
Volkes erreicht wird. Die beiden letztgenann¬
ten Gedichte, Salkımsögüt und Bahri Hazer,
von den Columbia Tonstudios als elegische,
mit dem Brustton der Überzeugung vorgetra¬
gene Rezitation Näzım Hikmets aufgenom¬
men, wurden so populär, daß man sie überall
in Kaffeehäusern und Volksküchen, hören
konnte. Das Volk lauschte wie chloroformiert
der kantilenenhaften Sprache des Dichters. In
nur zwanzig Tagen waren die Tonträger mit
der Stimme Näzım Hikmets ausverkauft.
1930 erschienen die Gedichtsammlungen
Varan 3 und 1+1=1, 1931 Die stumme Stadt,
1932 die beiden Theaterstücke Der Schädel
(Kafatası) und Das Totenhaus (Bir Ölü Evi)
und die Lyrikbände Nachttelegramm (Gece
Gelen Telegraf) und Warum hat sich Benergee
umgebracht? (Benerci Kendini Nicin Öldür¬
dü?).
Im Mai 1931 beschuldigt das Innenministe¬
rium Näzım Hikmet des Aufrufs zum Klas¬
senkampf in seinen Gedichten. Er muß sich
vor Gericht verantworten. Gegen die satiri¬
schen Gedichte, vor allem in Nachttelegramm,
werden zwei voneinander unabhängige Ver¬
fahren eingeleitet, die jedoch durch eine Ge¬
neralamnestie zum Zehn-Jahresjubiläum der
Gründung der Republik ihre ohnehin dubiose,
sozusagen illegitime Legalität verloren zu ha¬
ben scheinen.
Seit 1931 erscheinen Gedichte Näzım Hik¬
mets in französischen Zeitungen wie Bifur,
Cahiers du Sud und Soute. 1932 wird Näzım
Hikmet im Büchermagazin Bookman auf acht
Seiten und mit sechs Photos als ein „Poet der
neuen Türkei“ dem US-amerikanischen Pu¬
blikum vorgestellt. Als im selben Jahr in
Reaktion auf das Verteilen von Flugblättern in
Istanbul Massenverhaftungen durchgeführt
werden, scheint es günstig, auch Näzım
Hikmet gewissermaßen provisorisch als gei¬
stigen Urheber zu verhaften. Im Juni 1933
kommt er nach Bursa, wo man ein mit der
Absicht, die Höchststrafe, Tod durch Er¬
hängen, auszusprechen, begonnenes Verfahren
am 31. Januar 1934 (was für ein Geburtstags¬
geschenk!) in eine fünf-, später vierjährige
Haft umwandelt. Im Rahmen einer weiteren
Amnestie, die einerseits die zentripetalen und
zentrifugalen Kräfte in Politik und Willkür¬
Rechtsprechung, andererseits unterschiedliche
kautschukähnliche Auffassungen von Demo¬
kratie und Aufklärung reflektiert, kommt
Näzım Hikmet auf freien Fuß.
Am 31. Januar 1935 heiratet er die aus einer
angesehenen und einflußreichen Familie stam¬
mende Piraye Altinoglu, die er seit 1930
kennt. Ihr, die ihn oft im Gefängnis besuchte,
widmet er das während des langen Gefängnis¬
aufenthaltes verfaßte Versepos Memleketim¬
den Insan Manzaraları. Unter dem Pseu¬
donym Orhan Selim schreibt er nun für die
Zeitung Aksam, weil er nicht zuletzt durch die
Heirat mit Piraye, die zwei Kinder in die Ehe
mitbringt, vor geänderten Tatsachen steht.
Trotz der widrigen finanziellen Umstände
meistert er seine neue Rolle als verständnis¬
voller, liebevoller Vater mit einer großen
Seele. Aus dieser Zeit rührt wohl die Anek¬
dote, welche die auf großem gegenseitigen
Respekt beruhende Beziehung zwischen
Mustafa Kemal Atatürk und Näzım Hikmet
veranschaulicht. Während einer seiner legen¬
dären Rakiabende ohne Ende ließ sich Atatürk
Gedichte des von ihm verehrten Näzım
Hikmet vortragen. Um etwas Authentischeres
zu haben, befahl Atatürk seiner Leibgarde, den
Dichter persönlich aus seinem Haus in Kadı¬
köy zu holen. Hikmet, aus dem Schlaf ge¬
weckt, ließ aber nur die lakonische Botschaft
übermitteln, er sei nicht die armenische
Nachtclubsangerin Eftalya. Mustafa Kemal,
dem diese Worte tiberbracht wurden, soll ge¬
sagt haben, er habe von einem so großen
Dichter nur eine so große Antwort erwartet.
In der Folge entstehen literarische Skizzen,
Portraits und die Briefe an Tarantu Babu, das
Drama Der Vergessene Mensch und Das Epos
vom Scheich Bedrettin. Nazim übersetzt unter
anderem das Libretto zu Giacomo Puccinis
Oper Tosca aus dem Französischen. Die vom
österreichischen Architekten Clemens Holz¬
meister in den späten 1920er Jahren erbaute
Staatsoper in Ankara, wird 1936 bis 1947 von
Carl Ebert geleitet, vor 1933 und nach Kriegs¬
ende Intendant der Berliner Oper. (Mit ihm
waren viele andere verfolgte Akademiker,
Künstler und Politiker wie Ernst Reuter, Paul
Hindemith, Martin Wagner, Margarete
Schütte-Lihotsky, Rosemarie Heyd-Burkart,
der Romanist Leo Spitzer, Bruno Taut, der
Jurist Ernst E. Hirsch, Julius Stern, Fritz
Neumark, Eduard Zuckmayer, ja man staune,
George Tabori, das Kinderarztehepaar Erna
und Albert Eckstein und andere einer Ein¬
ladung der Regierung Atatürks gefolgt, um an
den neu gegründeten Universitäten und der