Mein Großvater reiste fast fünfzig Jahre lang durch die Öster¬
reichisch-Ungarische Monarchie, das zweitgrößte Reich nach
dem Russischen Imperium. Er fuhr vom Sudetengebirge im ver¬
schneiten Norden zu den Palmen Dalmatiens im Süden, von den
weiten Ebenen und Mooren Wolhyniens im Osten zu der sanf¬
ten Schönheit des Bodensees in der Schweiz. In diesem enor¬
men Areal lebten über fünfzig Millionen Menschen unter der
Herrschaft eines milden, graubärtigen Kaisers, mehr ein Symbol
als ein Mensch. Diese fünfzig Millionen Menschen waren auf¬
geteilt in zwei Dutzend Nationen, Sprachen, Religionen, die al¬
le in ständigem Streit miteinander lagen, aber eher wie Brüder
und Schwestern.
Mein Großvater reiste mit einem Koffer, der fünfzig kleine
Fläschchen Schnaps und Likör enthielt. Fünfzig Schattierungen
und Nuancen alkoholischer Freuden, deren jede er mit solcher
Lebendigkeit und Feinheit seinen Kunden zu beschreiben wus¬
ste, dass man meinte, dieser bescheidene
Kaufmann sei in der Kunst des Trinkens
der größte Connaisseur. Tatsächlich ver¬
abscheute er Alkohol und nahm nur ein
Schlückchen nach einem gutgelungenen
Geschäft, wenn er den rumänischen, un¬
garischen, polnischen oder slowaki¬
schen Wirt zu einem Gläschen seiner
edelsten Marke einlud.
Großvater war kein Heiliger, trotz
seiner ungewöhnlichen Nüchternheit
und Abstinenz. Man munkelte, dass er
den Beruf des Handlungsreisenden
nur gewählt hatte, um seiner gebieteri¬
:schen Frau zu entfliehen, die er mit
zwanzig geheiratet hatte ohne zu wis¬
sen, dass sie um zehn Jahre älter war als
er. Von zweiundfünfzig Wochen des \
Jahres verbrachte er zwei zuhause, in
denen seine Frau gnadenlos seine
schlechten Manieren benörgelte, seine
Interesselosigkeit an Theater und Mu¬
sik, seine mangelnde Bildung und Un¬
fähigkeit zu gehobener Konversation.
Er getraute sich nie, seiner stämmigen,
redegewandten Frau zu widersprechen, er war zart und immer
unsicher in ihrer Gegenwart. Und doch glaube ich, dass sie kei¬
nen Grund hatte, ihm Eifersuchtsszenen zu machen: Er hatte
vielleicht manchmal ein kleines Abenteuer in einem kleinen Ort,
wie ein anderer Reisender einmal erzählte, aber er muss sehr
zurückhaltend und sparsam gewesen sein, da er alles Geld, das
er verdiente, nach Hause schickte. Er lebte, wie er sagte, von
„Kartoffeln“ und wohnte in ärmlichsten Gasthäusern, so dass
seine Minna in die Hofoper gehen und für ihren Sohn einen
Privatlehrer engagieren konnte, Spross einer verarmten aristo¬
kratischen Familie.
Wenn aber sein Enkel bei ihm auf dem Knie saß, war er we¬
der schüchtern noch wortkarg. Vor dreißig und mehr Jahren gab
es kaum Eisenbahnen in den östlichen Regionen der Monarchie,
und die Gegenden, durch die mein Großvater reiste, waren wohl
ähnlich dem Wilden Westen zu Buffalo Bills Zeiten. Es gab zwar
keine Rothäute in ,,Halbasien“, wie man diese Gegend nann¬
te, dafür Straßenräuber, diebische Zigeuner und Horden hung¬
riger Wölfe. Ich erinnere mich noch gut an Großvaters leben¬
dige Schilderung einer Schlittenfahrt durch die Bukowina, wie
eine Horde bellender Wölfe hinter dem Schlitten herlief, wie
die kleinen rumänischen Pferde dahinsausten, als wäre der Teufel
hinter ihnen her, und der Kutscher ständig das Kreuzzeichen über
sich und seinen jüdischen Mitreisenden schlug. Allerdings heg¬
te ich an der Wahrheit des aufregendsten Momentes immer mei¬
ne heimlichen Zweifel: Ein Wolf hatte den Schlitten erreicht,
sprang sogar hinauf, doch seine Vorderbeine verhedderten sich
in den leeren Branntweinflaschen hinten im Wagen, sodass er
den entscheidenden Sprung nach vorn nicht machen konnte, und
einige Kilometer bis zum nächsten Dorf mitfahren musste, wo
der Schuss eines Soldaten die beiden Reisenden von dem un¬
freundlichen Gast befreite.
Auch wenn diese Geschichte nicht
ganz der Wahrheit entsprach, auch
wenn mein Großvater manchmal eine
Freundin unter den Dorfschönheiten
fand — für mich war er der Prototyp ei¬
nes Heiligen. Denn er konnte Hebrä¬
isch lesen und flog durch die Seiten sei¬
nes „siddur‘“ mit der Leichtigkeit eines
Eichkätzchens und schneller als ir¬
gendein anderer in der Polnischen Ge¬
meinschaft, zu der er mich freitaga¬
bends, bei seinen seltenen Besuchen in
Wien, mitnahm. Er war sogar schnel¬
_ ler als der ,,Hazan“. Als ich ihn als
zehnjahriger Bub einmal fragte, nicht
» ohne eine gewisse Bosheit — ob er auch
alles verstehe was er da las — blickte
der Heilige mit einer Wiirde, un¬
glaublich fiir jeden, der ihn nicht kann¬
te, auf das Kind herab und sagte leise,
„die Hauptsache, mein Kind ist doch,
dass Gott versteht“.
So emsig er im Geldverdienen war,
macht und versuchte immer, diesen
Tag in einer jüdischen Gemeinde zu verbringen, wo es eine
„Schul“ und etwas Heiligkeit gab. Er wusste, dass er ungebil¬
det war, sowohl im europäischen wie auch im jüdischen Sinn.
Aber er hatte großen Respekt für Gelehrsamkeit und konnte stun¬
denlang den Talmud-Disputen der achtzigjährigen Dorf-Rab¬
bis zuhören, wie auch den klugen Reden seines Enkels, der ins
Gymnasium ging und mehr über Napoleon wusste als sein
Großvater. Er aber konnte damit prahlen, dass er noch von sei¬
nem eigenen Großvater die Geschichte hörte. Der hatte als Knabe
den Kaiser mit einer enormen Armee nach Osten marschieren
und später, in die Flucht geschlagen, zurückkehren sehen, wie
all die ruhmgierigen Könige in der Bibel.
Jedenfalls war er stolz, dass sein Sohn Rechtsanwalt gewor¬
den war, sein einziger Kummer war, dass Minna (Miriam), halb
assimiliert und ehrgeizig, sich weigerte ihn „Isaak“ zu nennen,
sondern auf den modischen Namen „Ignace“, nach dem Gründer