Der Beitrag entstand anläßlich einer Podiumsdiskussion
„Sprengstoff Religion - Vorurteile, Gewalt, Friedensbotschaf¬
ten“, die am 19. Oktober 2006 im BG/BRG Saalfelden statt¬
gefunden hat. Zu dieser Diskussion, an der unter anderem der
katholische Theologe Prof. Gregor Hoff und der Islamwis¬
senschaftler Prof. Ömer Özsoy teilgenommen haben, war ich
als „Vertreter des Judentums “ eingeladen worden. Obwohl ich
mich weder als Vertreter einer Religionsgemeinschaft noch als
Stellvertreter irgendwelcher Art betrachte, beschloss ich- nach
einigem Zögern — die Einladung dennoch anzunehmen...
Im Grunde sind wir alle (oder zumindest die meisten von uns)
Fundamentalisten. Wer Grundsätze hat, besitzt ein Fundament,
auf dem er sein Leben aufbaut. Wer diese Grundsätze jedoch
nicht hinterfragt, wer sie nicht als Herausforderung versteht in
einer permanenten Auseinandersetzung mit sich selbst und der
Welt, wer nicht fähig ist, seine Grundsätze zu modifizieren oder
neuen Gegebenheiten anzupassen, kann unter Umständen zum
„Fundamentalisten“ werden, und zwar in jenem engeren Sinne
des Wortes wie der Begriff heute üblicherweise gebraucht und
verstanden wird.
Fundamentalismus ist, meiner Ansicht nach, der Ausdruck
einer Lebensangst. Wenn Gott klare Regeln vorgibt, denen die
Menschen und die Welt zu gehorchen haben, und wenn das rea¬
le Leben mit seinen realen Menschen — Menschen mit Schwä¬
chen, Abgründen und Widersprüchen — nur eine Anomalie, ei¬
ne Abweichung von der Norm, ist, dann gibt es keinen Zweifel
und keine Angst. Fundamentalismus ist die Flucht in die
Sicherheit, in der alles, was wir tun und erleben, eine funda¬
mentale Bedeutung oder sogar einen höheren Sinn hat, solan¬
ge wir nur „das Richtige“ tun. Fundamentalisten fehlt der Mut,
am Leben zu scheitern und es trotzdem zu ertragen. Jedes
Stolpern auf einem klaren, durch Gottes Regeln vorgezeichneten
Weg ist hingegen nur folgerichtig, denn es ist Teil des (ver¬
meintlich) unausweichlichen Kampfes zwischen dem, was ist,
und dem, wie es sein sollte, und was immer man dabei erlei¬
det, wird ohnehin im Jenseits oder am Tage des Jüngsten Gerichts
wiedergutgemacht.
Fundamentalismus ist die Flucht in die Durchschaubarkeit
und Ordnung einer in die Zukunft hinein projizierten Utopie.
Was die Utopie am Leben erhält ist der Kampf. In ihren Feinden
zerstört die zum Dogma erhobene Utopie die irritierende
Unsicherheit der realen Welt. Einfache Antworten taugen nicht
für komplizierte Fragen. Also muss jene Welt vernichtet wer¬
den, die komplizierte Fragen aufwirft.
Im engeren Sinne hat religiöser Fundamentalismus nichts mit
Gott zu tun. Fundamentalismus ist ein zutiefst menschliches,
ein emotionelles und psychologisches Problem. In erster Linie
ist es ein Problem von Gesellschaften und nicht von Religionen.
Fundamentalistische Religionsauslegungen können aber natür¬
lich ganze Gesellschaften prägen wie zum Beispiel in dem vom
wahabitischen Islam dominierten Saudi Arabien. Fundamenta¬
listen legen religiöse Lehren in ihrem Sinne aus. Wer will, fin¬
det in jeder Religion aggressive oder gewalttätige Züge. Und
umgekehrt.
Um ein Beispiel zu bringen: Eine extremistische jüdische
Minderheit in Israel ist heute der Meinung, das so genannte
„Palästinenserproblem“ sei durch Macht und Eroberung zu lö¬
sen. Im Verständnis dieser religiösen Nationalisten muss das von
Gott auserwählte Volk der Juden die Palästinenser aus dem Land
vertreiben, weil dieses im Altertum den Juden gehört hatte. In
der Tora, der jüdischen Bibel, findet sich tatsächlich mehrfach
das Gebot, dass die götzendienerischen Völker, die im Lande
Kanaan ansässig waren, vernichtet werden müssten. Der Talmud
äußert sich in diesem Punkt jedoch unzweideutig: Die un¬
barmherzige Eroberung des Gelobten Landes liegt weit
zurück; sie war ein einmaliges Ereignis. Es ist verboten, etwas
Ähnliches jemals zu wiederholen. Ultranationalistische religiöse
Siedler im Westjordanland, die sich auf Gottes Wort berufen,
handeln also in Wirklichkeit gegen die jüdische Lehre, wenn
sie behaupten, man müsse Judäa und Samaria besiedeln und die
Araber vertreiben...
Im Vergleich zu anderen Dogmen haben religiöse Lehren den
Vorteil, dass ihr Verfasser nicht so leicht hinterfragt oder ver¬
unglimpft werden kann. Gott ist schließlich Gott, während zum
Beispiel Karl Marx eben doch nur ein obskurer Ökonom und
Gesellschaftstheoretiker des 19. Jahrunderts gewesen ist. Wer
glaubt, im Jenseits belohnt oder erlöst zu werden, kann wahr¬
scheinlich leichter einem Verführer zum Opfer fallen, der be¬
hauptet, die Voraussetzung der Belohung und Erlösung sei die
Vernichtung realer oder vermeintlicher Feinde, als jemand, der
weder an Belohnungen noch Erlösungen glaubt. Ich persönlich
glaube an keine Belohnung im Jenseits. Ich glaube auch nicht
daran, als Jude in irgendeiner Weise „auserwählt“ zu sein. Meiner
Ansicht nach ist jeder Mensch wertvoll, einmalig und somit aus¬
erwählt. ¬
Milde ist bekanntlich keine ausgeprägte „fundamentalisti¬
sche Eigenschaft“, genauso wenig wie Ironie oder Humor. In
seiner Unerbittlichkeit und Einseitigkeit hat der Fundamen¬
talismus immer auch etwas Banales und unfreiwillig Komisches
an sich. Der Pathos religiöser Fundamentalisten ist nur einen
Schritt von Rührseligkeit entfernt. Fundamentalismus ist oft im
wahrsten Sinne des Wortes explosiver Religionskitsch. Wie
schon gesagt: Mit Gott hat das, meiner Ansicht nach, nichts zu
tun. Wenn Gott uns tatsächlich nach seinem Ebenbild erschaf¬
fen hat oder zumindest so geformt hat, wie er es wollte, so war
es auch sein Wille, dass wir nicht alles wissen und verstehen
können, dass wir uns selbst, andere und sogar IHN manchmal
auf die Schaufel nehmen dürfen, dass die Schicksalsschläge, die
wir erleiden und die Ungerechtigkeiten, mit denen wir kon¬
frontiert sind, oft demütigend und unerklärlich sind, dass wir
mit dem Schicksal hadern und verzweifeln dürfen und dass wir
in unserem Leben hin und wieder keinen Ausweg finden. Wer
das verstanden hat, dem wird es leichter fallen, milde zu sich
selbst und zu anderen zu sein. Und er wird keinen Ausweg in
der trügerischen Sicherheit von Dogmen suchen, die letztlich
nur in eine Sackgasse führen.
Von Vladimir Vertlib ist zuletzt 2006 der Erzählband ,, Mein er¬
ster Mörder“ bei Deuticke (Wien) erschienen.