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ginnt am 24.9. 1918 noch in Wien mit dem
Gedicht „Gotisches Motiv“. Am 26.9. 1918
folgt ohne Ortsangabe ein Gedicht mit dem
Titel „Der letzte Blick“: Gefühle einer Reiter¬
gruppe bei ihrem Abschied vom Leben.

Ein viertes Gedicht „Tiefer noch verblüht...“
ensteht am 15.10. bereits in Casiacco (= Cas¬
saco bei Tricesimo; Kramer nimmt es mit der
Schreibung italienischer Ortsnamen nicht sehr
genau). Am 21.10. folgt ein in „Pettorio“ (?)
verfaßtes Gedicht, am 26.10. noch einmal ei¬
nes aus ,,Cesiacco“.

Der Raum, in dem die Marschformationen zu¬
sammengestellt werden sollen, erstreckte sich,
so Kramer in seinem Brief an Kilian, zwischen
Gemona und Udine. Hier finden sich auch die
Namen der Orte, die Kramer — sei es im Titel
der Gedichte, sei es als Entstehungsort — angibt:
Gemona, Tarcento, Cassaco, Fraelacco, Sedilis,
das Kramer stets ,,Sedylis“ schreibt.

Beim Zusammenbruch der österreichischen
Front Anfang Novemüber 1918 zieht sich Kra¬
mers Einheit, das 24. Schützenregiment, aus
dem Monte Grappa-Massiv über Bozen und
Brixen zurück, während Kramer selbst für sei¬
ne Flucht aus dem Friaul den näheren Plöcken¬
paß benützt. Begleitet von einem einzigen Ka¬
meraden, erreicht er Kärnten und danach in ei¬
nem mühsamen Fußmarsch Bruck an der Mur.
Diesen Marsch erwähnt Kramer nicht nur in
seinem Gedicht „Rückzug über den Plöcken““,
sondern auch in seiner als Vorrede zu einer
Radiolesung gedachten „Skizze für den Schle¬
sischen Rundfunk“ vom 4.6. 1931”. Er macht
ihn auch zum Gegenstand der beiden Gedichte
„Wir waren Kameraden“ (3.3. 1932) und
„Nach neunzehn Jahren“ (30.10. 1937) .

Ein Brief Theodor Kramers vom 7.7. 1931”
läßt vermuten, daß dieser Kamerad, mit dem er
alle Mühen teilte, von dem ihn aber die politi¬
sche Überzeugung trennt, Dr. Eduard Bennin¬
ger war. In diesem Brief heißt es:

Daß du als ältester Kenner meiner Arbeiten
und als Freund aus der Kriegszeit her das Buch
[,, Wir lagen in Wolhynien im Morast“] mit sol¬
chem Maß mißt, bewegt mich tief. Ich will dir
heute einiges von seiner Entstehung sagen. Ich
hatte schon früher oft versucht, dieses Stoffge¬
biet zu gestalten, aber die Sachen wurden „in¬
direkt“ und schlecht ...

Was Kramer hier anspricht, ist sein Versuch,
bald nach seiner Heimkehr das Erlebnis des
Krieges zu bewältigen, und zwar „umgekehrt“,
nicht mit Wolhynien, das später dem
Gedichtband den Titel geben sollte, sondern mit
dem Näherliegenden, mit Italien, beginnend.
Am 28./29 12. 1919 entsteht das Gedicht „Lie¬
besnacht an italienischer Front Frühjahr 18“
(siehe a), das Urbild der späteren „‚Krokus und
Dornen“-Gedichte. Hier stoßen wir zum ersten
Mal auf etwas Rätselhaftes: Kramer ist dem
Geschehen noch nahe genug, als daß eine
Verwechslung der Zeitangabe möglich wäre.
Es muß das „Frühjahr 18° gemeint sein. Doch
das wiederholte Auftauchen solcher, aus¬
drücklich mit Zeitangaben (des Vorganges und
nicht der Entstehung!) versehener Gedichte in
den Manuskriptheften, wie „Winterquartier in

Gemona Dez. 1917“, „Tarcento März 1918“,
„Gotische Nacht in italienischer Etappenstadt
Frühling 1918“, wirft eine Frage auf: War
Theodor Kramer schon vor seinem Studien¬
urlaub an der Universität Wien einmal in
Friaul? In seinen Militärpapieren findet sich
nichts darüber. Jedoch — und das ist das Selt¬
same — die Anwesenheit seiner Einheit in Friaul
ist durch die Regimentsgeschichte gerade für
die Zeit nach dem Durchbruch in der letzten
Isonzoschlacht (24.10. bis 1.11. 1917) und ge¬
rade in jenem Gebiet bezeugt. Für uns muß
dieses Rätsel ungelöst bleiben.

Die Gedichte Kramers aus den Jahren 1919 bis
1925 entstammen einer Periode, die er selbst in
der erwähnten „Skizze für den Schlesischen
Rundfunk“ als „formal glatt(er), inhaltlich
mehr einem wilden Individualismus zugekehrt,
der mich fast zur Schizophrenie führte“ ” be¬
zeichnet hat. So müssen auch seine Italien¬
Gedichte, mit denen er zwischen 1920 und
1922 sein Kriegserlebnis bewältigen wollte —
so „Taverne hinter der Front“ (19.1. 1920),
„Einmarsch in Audunis Italien“ (= Aonidis bei
S. Daniele del Friuli?) (10.8. 1920) u „Italien
Front 1918 Schlafende Soldaten in zerstörter
italienischer Stadt“ (15.8. 1920), ,,Front in
Italien Herbst 1918“ (18.9. 1920), „Den Dirnen
in der italienischen Etappe“ (9.5. 1922),
„Kaleidoskop Italienische Etappe“ (20.8. 1922)
— gesehen werden.

Doch gerade in diesen frühen, oft noch unge¬
lenken Gedichten Kramers wird eine künstle¬
rische Begabung über das Wort hinaus offen¬
bar. Wie die zahlreichen Vertonungen seiner
Verse als Beweis für die Stärke der seiner Lyrik
zugrunde liegenden Melodik gelten können,
zeigen sich in einigen Gedichten seiner Früh¬
zeit deutliche Ansätze einer anderen in ihm ru¬
henden Fähigkeit: nämlich wie ein Zeichner
„Gesehenes“ zu gestalten, indem er etwa Zy¬
pressen zur Gliederung des Raumes nutzt. (sie¬
he b).

Hingegen mangelt es ihm des öfteren noch an
der Schärfe jener treffenden Anschaulichkeit,
die seine späteren Gedichte auszeichnen soll¬
te. Zur Charakterisierung des Landes etwa be¬
schränkt er sich immer wieder auf die gleichen
Versatzstücke: Öl-, Feigen- und Muskatenbäu¬
me, Pinien und Zypressen, Wolfsmilch und
Krokus, schlafende Echsen, Bänke und Sulen
aus Marmor. Wer denkt da nicht an Goethes
„Mignon“? Nur die „Gold-Orangen“ wachsen
noch weiter unten im Süden.

Die zweite Begegnung Kramers mit Italien fällt
in das Jahr 1925. War er beim ersten Mal un¬
freiwillig und in Uniform nach Italien gekom¬
men, so fühlte er sich nun vom Süden mächtig
angezogen. Seien es Erinnerungen an die wei¬
ten Ebenen in Friaul, sei es die Nachwirkung
seines Kriegssemesters an der Wiener Uni¬
versität, wo er Vorlesungen Ludo Hartmanns”
gehört hatte, der die italienische Geschichte in
den Mittelpunkt seiner Forschungen stellte. Für
Letzteres spricht ein einmaliges Ereignis in
Kramers Schaffen: Im Frühjahr 1925 verfaßte

er in einem Zeitraum von nur vier Tagen, 9.-12.
Mai, wie unter Zwang einen Zyklus von zehn
Gedichten: „Die Pest“. Eine Darstellung der
Selbstfindung des Menschen am Beginn der
Renaissance als Folge der Großen Pest von
1348. Und er verlegt dieses Geschehen deutlich
in das Land südlich der Alpen.

Ein solcher Zyklus steht innerhalb seines Wer¬
kes einmalig da. Einmalig ist auch die Vor¬
gangsweise Kramers: Er entfernte die entspre¬
chenden Seiten aus dem vom 27.IV.-15.VI.
1925 geführten Manuskriptheft bis auf einen
schmalen oberen Rand, auf den er „8-12.V. Die
Pest I-X. (Schreibmaschine.)“ schrieb. Das so
angekündigte Typoskript hat der Verfasser dann
auch in Kramers Nachlaß gefunden und es in
den 2. Band der von ihm herausgegebenen
„Gesammelten Gedichte von Theodor Kramer“
aufgenommen ”.

1825 zog es Kramer selbst nach Italien, und
dies umso mehr, als er die Reise gemeinsam
mit Maryla Malgorzata (Maria Margarete)
Falk-Boguslawski, der eingangs erwähnten
schönen Polin „aus aristokratischem Ge¬
schlecht“ antreten kann. Kramer kannte Maryla
damals seit mindestens zwei Jahren. Das erste
Gedicht, das ihren Vornamen als Titel trägt,
stammt vom 14.7. 1923, ein anderes mit ihrem
Zweitnamen ,,Malgorzata“ vom 28.2. 1925.
Das Ziel ihrer Reise war die Toskana: Marina
di Massa bei Massa di Carrara, am Ufer des
Meeres gelegen, wo sich laut Baedecker von
1911 ein „großartiger Blick auf die Küste von
Portovenere bis Viareggio“ "bietet. Zum ersten
Mal sieht Kramer das Meer. Aber es überwäl¬
tigt ihn nicht, es erschreckt ihn eher, nimmt ihm
den Atem (siche d).

Nicht Pisa und Siena, deren Besuch sein er¬
wähnter Brief an Peter Kilian bezeugt, hinter¬
lassen in seinem Werk Spuren, sondern allein
Florenz. Kramers Aufenthalt in dieser Stadt ist
in seinem Manuskriptheft für den 8. und 9.9.
1925 gesichert. Schon die von ihm dort als
Ortsangabe gebrauchte Namensform „Firenze“
an Stelle des deutschen „Florenz“ läßt die
Wirkung ihrer Italianitä erahnen. Auch als
Überschrift eines der Stadt gewidmeten
Gedichtes verwendet er die italienische Form.
Darüber hinaus bezeugen zwei Schreibma¬
schinabschriften im Nachlaß — sie sind, was
sehr selten ist, mit „TKramer“ unterschrieben
— den gewaltigen Eindruck, den die Stadt auf
ihn gemacht hat: Auf beiden hat der Dichter
dem Titel handschriftlich ein Rufzeichen hin¬
zugefügt! Ein in seiner Art ebenso einmaliger
Vorgang in den Aufzeichnungen Kramers wie
das Entfernen des Pest-Zyklus aus dem Manu¬
skriptheft.

Mit seiner Zeile „vom Wein, der schwarz und
bitter war“ (siehe c), ist das Gedicht auch
Zeugnis eines Verfahrens, das Kramers
Schaffen sein Leben lang begleitet hat: die
frühe Formung von Wortbildern, die, jederzeit
nutzbar, wie aus einem bereit stehenden Vorrat
geschöpft, immer wieder auftauchen. Die
Formel „vom schwarzen Wein“ z.B. erscheint
schon 1922 im Gedicht „Tarcento März 1918“
(7./8.8. 1922). (siehe a). In einem anderen Ge¬

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