Thomas Weyr
Die zerstörte Stadt
Ausschnitte aus dem dritten Teil des Manuskriptes „Die ferne Stadt“
von Thomas Weyr. Zusammengestellt von Martin Krist.
Thomas Weyr, Journalist und Buchautor, 1927 in Wien geboren,
lebt heute in New York und zeitweise auch in Wien. Sein Vater Sieg¬
Fried Weyr wurde 1890 in Galizien geboren. In der Ersten Republik
publizierte er in Zeitschriften des sozialistischen Vorwärts- Verlages.
1938 floh er mit seiner Frau Helene und seinem Sohn Thomas nach
Großbritannien und dann in die USA. 1947 kehrte er nach Wien
zurück und erlangte durch lokalgeschichtliche Bücher und Feuilletons
große Bekanntheit. 1963 verstarb er in Wien.
Der Manuskriptauszug handelt von den ersten Eindrücken Siegfried
Weyrs aus dem Wien des Jahres 1947, die er in Briefen seinem Sohn und
seiner Gattin mitteilte. Diese lebten zu dem Zeitpunkt in den USA.
Leicht wird es für ihn nicht gewesen sein. Am 30. Juni 1947
klettert er die Gangway des ehemaligen Truppentransporters S.S.
»Marine Falcon“, eines Schiffs von 10.000 Bruttotonnen, hinauf,
ohne sich nur einmal umzudrehen. Meine Mutter und ich stehen
am Quai und winken. Es ist ein heifSer Sommertag, so wie der 29.
Mai sechs Jahre zuvor, als wir in Amerika landeten. Mein Vater
hat alle notwendigen Dokumente — neuen Pass, Ausreise- und
Wiedereinreisebewilligung und den Brief des Generals Anderson —
bei sich. Die Reise kostete $ 129,30. Die Quittung der U.S.-Lines
liegt noch heute in seinem Tagebuch.
„In der Nacht schlief ich schlecht, weil Licht brannte. Wasch¬
verhältnisse sehr primitiv. Kasernenhaft. Häusl ganz öffentlich.
Das Essen gut, aber alles soldatenhaft. Sehr viele Nonnen am
Schiff. Irische und italienische alte Proletarier, die ihre Familien
in Europa besuchen. Ein Italiener, der 1900 herüberkam. Man
hört viel Französisch. Ein orthodoxer Jude mit Vollbart. Grotesker
Anblick, ihn am öffentlichen Häusel thronen zu sehen. Mehrere
mexikanische Flieger an Bord. Ihre Uniformen dieselben wie von
Görings Luftwaffe.“
„Der Tag ist grau und sehr kühl“, schreibt er am 5. Juli. „Ach
liebe Kinder, wir haben ja die Selbstverständlichkeit von Kühle
ganz vergessen.“ Am nächsten Tag wird das Wetter noch kühler
und er muss sich in eine Decke wickeln. „Zwanzig Prozent der
Passagiere sind Juden, die nach Europa zurückkehren, hauptsächlich
in die Tschechoslowakei und Ungarn. Man hört genug Jiddisch. In
Summa ist diese Fahrt vom sozialen Standpunkt sehr interessant.
Es ist das, was man einmal Zwischendeck genannt hat und was es
sonst wo nicht mehr gibt.“
Auf der letzten Seite seines langen Briefes — es sind immerhin
sieben Seiten — notiert er: „Ich habe mich geirrt. Die Mexikaner
sind Kavallerieoffiziere, die zu einer Reiterkonkurrenz nach Prag
fahren. Heute erschienen sie in Paradeuniform, die ganz die der
SS ist. Schwarz mit Silber. Mit blassblauen Lampas. Ein slowaki¬
scher Uhrmacher — Jude - hat sich uns angeschlossen, der nach
23 Jahren Amerika nach Böhmen zurückkehrt. In einem Karton
führt er die Asche seines in Amerika verstorbenen Bruders mit,
um sie in der Slowakei beizusetzen. Was sagt ihr zu dieser Gewalt
metaphysischer Bedürfnisse im Leben unserer Tage? Es hat mir
einen tiefen Eindruck gemacht.“
Er landet am 10. Juli in Frankreich, wo er sofort in die Mühlen
der französischen Bürokratie gerät. Das schwere Gepäck könne er
nicht gleich abholen. Es werde ihm zwei Tage später nachgeschickt.
Er fährt mit dem Zug nach Paris. Er hofft, am 17. in Wien an¬
zukommen. Dort aber muss er sich mit der österreichischen und
der amerikanischen Bürokratie zugleich herumschlagen, was er als
gelernter Österreicher unbeschadet übersteht.
„Den heutigen Tag habe ich praktisch verwartet“, schreibt er
am 8. August, „um 8 Uhr früh im Wohnungsamt, wo ich die
notwendigen Formulare endlich erhielt, ein Aufnahmeblatt, eine
Registrierungsbestätigung (dass ich kein Nazi bin), zwei eides¬
stattliche Erklärungen, dass ihr beide keine Nazi seid — von mir
abzugeben, eine Bestätigung vom Vöginger (der Hausbesorger in
der Hungerberggasse [...]), dass ich Hauptmieter war, eine Bestä¬
tigung vom Zentralmeldeamt, dass ich am Hungerberg gewohnt
habe und eine Bestätigung, dass ich politisch verfolgt bin (werde
Matejka drum ersuchen). Am Nachmittag musste ich zwei weitere
Stunden am amerikanischen Arbeitsamt warten, bis meine An¬
stellung beim ‚Wiener Kurier‘ ok wurde, dann muss ich morgen
zum österreichischen Arbeitsamt, das mich dem Arbeitsamt der
US-Army anweist, dann muss ich von den Amerikanern dena¬
zifiziert und fotografiert werden. Und wisst ihr, wo das war? In
der Porzellangasse am Steueramt, wo ich '38 so viele Stunden auf
unsere Steuerunbedenklichkeitserklärung gewartet habe. Welch
ein Theater diese Welt - und die ganze Bürokratie der US-Army
besteht aus Osterreichern, die alle erstaunlicherweise auch Englisch
und zwar ganz gut können, nur die Bosse sind Amerikaner, Zivi¬
listen. Der Charakter dieses Büros ist schönster altösterreichischer
Amtsschimmel — machen‘s an Eingab — nur dass die Formulare
in Englisch sind.“
Die Beziehung zu Viktor Matejka entwickelt sich trotz der langen
Korrespondenz aus den USA nicht weiter, denn seine Frau, Gerda
Matejka-Felden, kommt dazwischen. Mein Vater besucht sie einige
Wochen nach seiner Rückkehr. „Berber, die große Dogge, ist vori¬
ges Jahr, elf Jahre alt, eingegangen. Wenn Gerda bei der Gestapo
am Morzinplatz behalten wurde, was oft geschah, saß sie tagelang
unbeweglich vor dem Hotel Metropol. Gerda war oft eingesperrt.
Hier und in Berlin. Sie ist wiederholt zur Bewusstlosigkeit geprügelt
worden. Sie hat erschütternd erzählt, wie sie oft zu sich kam, an
den Füßen über Stiegen geschleift oder in der Ecke am Fußboden
vor einem Paar hoher Stiefel, das ganze Gesicht, Hals, Hände voll
Blut. Sie hat von diesen vielen Misshandlungen einen Sprachfehler
bekommen, der ihr zwei Jahre angehaftet hat, sie ist grau geworden
und färbt sich die Haare. Sie erwacht des Nachts oft schreiend und
im Theater muss sie oft weggehen, weil plötzliche Platzangst über
sie kommt. In der Erscheinung ist sie unverändert, die Gesichtszüge
etwas schärfer. [...] Leider hat sie ein schreckliches Unglück. Ihr
Mann misshandelt sie unsagbar. Nicht mit Fäusten, aber er spricht
oft monatelang kein Wort zu ihr. Als sie gestern früh von Tirol
zurückkam, ging er nicht auf die Bahn, und als sie ihn dann im