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Büro anrief, sagte er: ‚Interessiert mich nicht, dass du da bist!‘ Er
kommt oft wochenlang nicht nach Hause, hat einen Harem von
drei oder vier Sekretärinnen, und als sie vor einem halben Jahr
mit einer Nierenbeckenentzündung im Spital lag, hat er sie nie
besucht. Wenn sie ihm vorhielt, sie habe doch die ganzen Jahre
nichts getan, als seine Freilassung betrieben — er kam "44 heraus —,
habe so viele Misshandlungen auf der Gestapo deshalb einstecken
müssen, sagte er: ‚Klag am Salzamt auf einen Orden!“ Er gibt ihr
weder Geld noch Lebensmittel, die er aus der ganzen Welt in Stößen
bekommt und an seinen Harem und seine Hofschranzen verteilt.
[...] Furchtbar wie sie vor mir geweint hat. Er nennt sie Verräterin
an der Arbeiterklasse, weil sie eine Sozialdemokratin ist. Er ist aus
dem KZ vollkommen verändert zurückgekehrt, betrunken von
Macht. Dabei ist seine Stellung unsicher, bei den nächsten Wahlen
wird seine Partei wahrscheinlich verschwinden. Ich kann dir nicht
schildern, wie unpopulär die KP hier ist. In ihrer Verzweiflung hat
sie ihn schon geohrfeigt, und ganz Wien kennt die Tragödie dieser
Ehe. Er scheint ihr das KZ nicht zu verzeihen, in das er infolge
ihres idiotischen Rates, nicht zu fliehen, hineingefallen ist. Sie tut
mir maßlos leid, und ich bin froh, dass ich ihn nicht wegen eines
Postens angehen musste.“

In den folgenden Wochen ist der Vater oft der Verzweiflung nahe
und bereut seine Entscheidung, nach Wien zurückzukehren. Die
täglichen Geschichten über die Gräuel der Nazizeit erschüttern ihn
tief, denn dieses Maß von alltäglicher Grausamkeit in der Stadt —
nicht in den KZs - hat er sich nicht erwartet. Aber es sind nicht nur
die Nazigeschichten. „Ein Faktum, auf das ich allmählich komme,
ist, dass die größten Plünderungen in Wien im Mai '45 durch
die Wiener selbst ausgeführt wurden. Unglaubliche Geschichten
bekomme ich zu hören. Manchmal hat das ‚goldene Wiener Herz‘
ein Haus absichtlich angezündet, um dann die Möbel aus allen
Wohnungen zu ‚retten‘. Gewiss kamen da viele Nazis zum Hand¬
kuss, aber nicht nur Nazis.“ Die Postenschacherei des knospenden
Proporzes ekelt ihn auch an. Gerda Matejka entwirft ihm ein Bild
von „den heutigen Oberbonzen“, das er niederdrückend empfin¬
det. „Alle wollen Minister werden und es so lange wie möglich
bleiben, um ihre Ministergehälter von 2100 Schilling monatlich
zu kassieren.“ Eine Woche später ist er noch deprimierter. „Ich
kann euch meinen Seelenzustand nicht schildern. Ich fürchte, ich
verliere jetzt die Heimat zum zweiten und nun zum endgültigen
Male. Nichts als Greißler, Diebe und Huren. Dem Schickelgruber
ist es gelungen, Österreich zu vernichten. Das geistige Österreich,
Österreichs Seele. Könnt ihr euch vorstellen, in welcher Qual, in
welchem Schmerz ich dahinlebe? Ich war gestern mit der Gerda im
Apollo bei der Premiere eines österreichischen Filmes; der Mucki
(Matejka), der im Auto hinkam, hat sie weder gegrüßt noch sich
um sie gekümmert, dafür dann eine Rede gehalten. Der Film, in
Tirol gedreht, ist ein schauerlicher Dreck. Spielt bei einem interna¬
tionalen Skiwettrennen, eine sirupsüße, dumme Liebesgeschichte,
von elenden Schauspielern und abscheulichen Schauspielerinnen
gespielt, steif, hölzern, ausdruckslos. Der elendste Hollywoodkitsch
steht turmhoch darüber. Ich habe nie in Amerika so einen Mist
gesehen. Ich bin todunglücklich aus dem Kino heraus. Jeden Tag
bricht ein Stein aus meinem Hoffnungsgebäude für Österreich,
aus der Hoffnung für uns alle hier eine endgültige Heimat zu
finden, heraus. Wie kann ich jemals Tommy zumuten, in eine
solche Stick-Atmosphäre zu kommen?“

„Ich bin sehr niedergeschlagen“, schreibt eram 14. August, zum
Teil, weil ihn die vielen Amputierten, die auf Kriicken gehen — es
gab ja keine Prothesen — und kurze Lederhosen tragen, beklem¬
mend erscheinen, viel mehr aber von der Veränderung des Wiener
Charakters durch die Hitlerzeit. „Die Wiener sind nicht Nazis, sie
sind keine speziellen Antisemiten, alle Menschen in Europa sind
heute Antisemiten, aber die Wiener sind depraviert, es kommt
einem immer wieder der Ekel. Die Weltauffassung der Falotten
ist die allgemeine. Sie können einen lebensüberdrüssig machen.
In mir entstehen immer größere Zweifel, ob ich es wagen darf,
euch aufzufordern herüberzukommen. Ohne euch werde ich nicht
hier bleiben; ihr könnt euch meine Gemütsverfassung vorstellen.“
Er klagt über Müdigkeit, weil er so früh aufstehen muss, über
Schlaflosigkeit und große Nervosität. Der Grund sei wohl seelisch,
„die enorme Enttäuschung einer neunjährigen Hoffnung liegt zent¬
nerschwer auf mir.“ „Ich weiß es noch nicht sicher, aber vielleicht
ist Österreich gar nicht mehr, sondern wir haben nur einen in der
politischen Retorte erzeugten Homunculus vor uns. Die Eindrücke
der Nazizeit sind tief gegangen, tief ins Unbewusste hinein. Vieles
von der österreichischen Art ist verschwunden. Die Österreicher
sind nicht preußifiziert, nicht nazifiziert, das kann man nicht sagen,
aber die österreichische Eigenart hat sich in hohem Grade verwischt.
Fast haben sie keinen Charakter mehr, fast sind sie menschlicher
Quark. Natürlich sind sie Antisemiten, kaum fanatische, dazu sind
sie zu müde, zu enttäuscht, dass man in Auschwitz nicht alle Juden
hat umbringen können; ich glaube, sie haben mit schmerzlicher
Resignation erkannt, dass der Himmlerplan unausführbar war, aber
sie mögen die Juden nicht. Vor allem aber wollen sie das Diebsgut
nicht hergeben, das ist ihnen wichtiger als jede Weltanschauung
oder Religion. Wohl 80 Prozent sind ausgemachte Lumpen.“

Das Treiben der Jugend, besonders der Studenten, findet er um
nichts besser. „Nein, da hinein gehörst du nicht, Tommy, in dieses
Chaos ungebildeter, moralisch verkommener, ewig nazistischer
Gestalten, denen ein ‚Ritterkreuzträger‘ des Eisernen Kreuzes das
Höchste bedeutet. Meiner heutigen Stimmung nach bedauere ich,
dass ich nach Wien gekommen bin, weiß aber, dass wenn ich nicht
gekommen wäre, in mir ewig eine unstillbare Sehnsucht geglüht
hätte. Nun lerne ich alles gründlich kennen. Nichts für Dich,
Tommy, nichts für Dich, Heluszka, nichts für mich. Ich warte
auf den Tag, wenn ich mich in den Zug werde setzen können.“

Verstreutes

Vergangenheitsbewältigung — definiert sich gewöhnlich von selbst
dadurch, daß ein Schlußstrich gezogen werden sollte. Erscheint
aber, was vergangen ist, nicht ohnehin schon als bewältigt? Woher
also dieser Juckreiz, der sich durch Kratzen, Waschen und Salben
Schmieren nicht abstellen läßt? Ist Auschwitz vergangen? Läßt es
sich bewältigen? Weshalb ist just dies Wort aufgekommen, als die
Krematorien kaum erkaltet waren? Warum verwenden wir es in
ZW nie? Wozu wird es unter dem Vorwand politischer Aufklärung
immer wieder gebraucht, ja gepredigt?

3/2010 11