will man durchaus ganz und gar überhaupt nichts mehr hören, ein
Emigrant hat einen Buckel zu machen.“
So vehement Kramer nach 1945 dafür eintrat, die Werke politisch
kompromittierter Dichter — wie etwa Josef Weinheber — nicht zu äch¬
ten, so wichtig war es ihm, die Dinge beim Namen zu nennen und
der Vernebelung von politischer Schuld entgegenzuwirken. In seinen
persönlichen Beziehungen kannteerkeine Nachsicht: Das galt fiir seinen
ehemals engen Freund, den Dichter und Minister der Schuschnigg¬
Regierung Guido Zernatto, der sich in seinen Augen als Austrofaschist
diskreditiert hatte; das galt auch fiir den deutschen Lyriker Georg von
der Vring, mit dem Kramer ebenfalls in regem Kontakt gestanden
war. Georg von der Vring hatte dem nationalsozialistischen Eutiner
Dichterkreis angehört und an einer Tagung teilgenommen, der Joseph
Goebbels präsidierte. Kramer dazu: „Gewiß hat niemand das Recht,
von jemandem anderen zu verlangen, daß er ein Märtyrer ist. Aber
insbesondereseit dem ersten Weltkrieg sollte, meiner Meinung nach, ein
Schriftsteller ähnliche Standesvorschriften beobachten wie ein Priester
oder ein Arzt. In solchen Fällen ist man sein eigenes Gewissen, und
Anklage zu erheben ist nur in extremen Fällen gestattet.“
Wir ehren heute Elazar Benyoétzals Trager des Theodor Kramer Preises
„für Schreiben im Widerstand und im Exil“. Daß einer, der mitten
in der deutschen Wirtschaftswunderwelt die verlorenen Scherben
der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte zusammengetragen hat, daß
einer, der solche Sätze oder „EinSätze“ schreibt, zeitlebens Widerstand
geleistet hat gegen das Achselzucken, gegen das Denkfaule und Da¬
hingeschwätzte, gegen das Verschwiegene und Verlogene, gegen das
Einhellige und Scheinheilige, liegt auf der Hand.
Wenn einer im Alter von eineinhalb Jahren aus dem Land seiner
Geburt vertrieben wird, dann schreibt er, sobald er schreiben kann,
notgedrungen im Exil, aber er schreibt zugleich auch in der Heimat, zu
der das Exilland ihm längst geworden ist. Elazar Benyo&tz hat freilich
das Unmögliche zuwege gebracht, nämlich Heimweh nach einem
Land und einer Kultur zu entwickeln, an die er keine Erinnerung
hatte, weshalb er sich eine schaffen mußte. Schreiben also im Exil.
Was aber verbindet den zehnten Preisträger des Theodor Kramer
Preises mit dessen Namenspatron, der gleich alt war wie Gottlieb
Koppel und der doch in seinem Gestus wenig Väterliches hat, viel
weniger jedenfalls als der, der sein Sohn sein könnte? Was verbindet
Daniela Strigl, Elazar Benyoétz, Renée Koppel (Metavel) bei der Verleihung des
Theodor Kramer Preises 2010 — Foto: H.M. Höfinger
und bekennenden Sozialdemokraten Kramer? Den wortkargen Dich¬
terdenker mit dem monomanisch produzierenden Drehorgelmann
der österreichischen Lyrik? Zu dem einem durchaus ein witziger Satz
von Benyoetz einfallen mag: „Die Versuchung tritt an den Dichter/
reimtückisch heran.“
Koppel und Kramer, zwei jüdische Niederösterreicher, die nolens
volens inder Weltherumkamen? Siesollten, denke ich, mitihrem Werk
einfach fiir sich stehen diirfen. Immerhin jedoch gibt es zunachst einige
erstaunliche biographische Beriihrungspunkte. Jener Paul Schick, der
sich in Wien des jungen Besuchers aus Israel annahm, gab die Zeit¬
schrift „Der Alleingang“ heraus, fiir die Benyoétz manches beitrug.
Sein Mitherausgeber war Michael Guttenbrunner, der inzwischen
verstorbene Dichter, der Brieffreund und nimmermiide Propagandist
‘Theodor Kramers. Guttenbrunner nahm an diesem Ort den Theodor
Kramer Preis des Jahres 2004 entgegen. Sodann war Elazar Benyoétz
mit eben jenem — viel alteren — Georg von der Vring befreundet, mit
dem Kramer nach dem Krieg gebrochen hatte. Sieht man näher hin,
stößt man auf ein Gespinst von Beziehungen.
Und dann findet sich bei Elazar Benyoétz endlich auch eine direkte
Spur: Am 28. Juli 1993 berichtet er dem Germanisten und Kramer¬
Interpreten Johann Holznerin einem Briefvonzwei Kramer-Erstausgaben
aus seiner Bibliothek: einem Exemplar der „Gaunerzinke“ mit einer
rätselhaften Reihe von Eintragungen verschiedener Inhaber aus dem
Jahr 1930 und einem Exemplar von „Wir lagen in Wolhynien im
Morast...“ Benyoétz hatte es als Geschenk von Georg von der Vring
erhalten und erwog, wie er Johann Holzner verriet, die angestriche¬
nen Passagen zum Ausgangspunkt für einen fiktiven Dialog zwischen
Kramer und von der Vring zu nehmen.
Kein schénerer Tag sei fiirihn denkbar, so Benyoétz, als jener Herbst¬
tag des Jahres 1963, an dem er „mit einem Zauberschlag gleich zwei
so herrliche Dichter für mich entdeckte bei Otto Müller in Salzburg“:
Christine Lavant und Theodor Kramer, mit „Vom schwarzen Wein“,
einem Auswahlband, den kein anderer als Michael Guttenbrunner
herausgegeben hat. Konkret sagt Elazar Benyoétz tiber Kramer: „Seine
Robustheit enthältein unendliches Zartgefühl. Seine Blickschärfe, die
ihresgleichen suchen muß.“
Noch über dieses kollegiale Verständnis hinausgehend, gibt es, so
scheint mir, eine tiefe Verwandtschaft zwischen Theodor Kramer und
Elazar Benyoétz, und zwar im Geiste Kohelets. In Kramers ,, Lied vom
Gras“ heißt es:
... 50 lobpreist mir das schlichte, das uralte Gras
und lobpreist es beharrlich und sacht.
Denn der Mensch — in der Heiligen Schrift steht dies Wort —
gleicht dem Gras, das gemäht wird und abends verdorrt
und zu Nichts noch im Wind wird vor Nacht.
Das steht im Psalm 103: „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras,
er blüht wie eine Blume auf dem Feld; wenn der Wind darüber geht,
so ist sie nimmer da“. Und im Buch Kohelet: „Und siehe, es war alles
eitel und Haschen nach dem Wind.“
Daß Kohelet an die Vergänglichkeitallen irdischen Strebensgemahnt
und zugleich das menschliche Glück nicht ins Jenseits verlegt, daß er
dem Menschen dringend empfiehlt, sich nicht vertrösten zu lassen,
sondern hier auf Erden zu seiner Sache zu kommen, das ist Kramers
Weltanschauung aufs engste verwandt — und wird wohl gerade hier in
Krems mit Dankbarkeit vernommen: „So gehe hin und iß dein Brot
mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dein Werk
gefällt Gott. Alles, was dir vor Handen kommt, zu tun, das tue frisch;