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angetreten zum Abmarsch, der zum Todesmarsch für so viele
wurde, einen Sack Würfelzucker gebracht, den wir mit den umste¬
henden Häftlingen teilten. Sie konnte dies im allerletzten Moment
organisieren, denn sie hatte Kontakt zu Frauen, die in der Küche
beschäftigt waren.

Dies war nicht nur ein Akt der Solidarität, sondern mit ihrer
selbstlosen Handlung hat sie einigen von uns vielleicht das Leben
gerettet.

Der Aufstand und die Sprengung eines Krematoriums in Birke¬
nau durch die Häftlinge des Sonderkommandos waren durch die
Handlungen der vier Mädchen, gemeinsam mit anderen, ermög¬
licht worden. Die vier Heldinnen, die ihr Leben eingesetzt hatten,
um andere vor dem Tod zu bewahren, mußten sterben. Während
wir zum Appell antreten und der Ermordung der vier Mädchen
zusehen mußten, versuchte Hanna, die 15-jährige Schwester von
Esther Weisblum, in ihrer Verzweiflung zum Galgen zu stürzen, um
mit ihrer Schwester zu sterben. Mit Mühe gelang es den Kamera¬
dinnen ihres Blocks, das Mädchen davon abzuhalten. Esther hatte
in einer aus dem Bunker herausgeschmuggelten Nachricht ihre
Freundinnen gebeten, sich ihrer jungen Schwester anzunehmen.
Es ist dies eine meiner aufregendsten Erinnerungen.

Wenige Tage später wurden die Häftlinge zusammengetrie¬
ben und aus dem Lager gejagt, da die Sowjetarmee näher kam.
Man wollte keine lebenden Zeugen zurücklassen, die das von
den Deutschen angerichtete Grauen berichten könnten. Nur
wenigen Häftlingen gelang es, sich zu verstecken. Die meisten
Häftlinge, die vor Erschöpfung auf diesem Marsch nicht mehr
gehen konnten, wurden auf der Stelle erschossen. Eine blutige
Spur von Erschossenen markierte den Weg des Todesmarsches
in jenem Jänner 1945 im tiefsten Winter.

Die Überlebenden wurden in offene Kohlenwaggons verladen
und ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und in andere
Konzentrationslager transportiert.

Die letzten Stunden in Auschwitz sind mir in gespenstischer Er¬
innerung. In ihren kopflosen Bemühungen, das Ausmaß ihrer
Untaten zu verschleiern, versuchte die SS ihre Aufzeichnungen,
Listen von Häftlingen, Dokumente etc. zu vernichten. Berge von
Papier lagen zwischen den Blocks auf den Wegen. Man watete
förmlich durch Papier. Wir waren voller Freude, daß das Ende
unserer Qualen gekommen war. Wir ahnten nicht, was uns alles
auf dem Todesmarsch und bis zu unserer endgültigen Befreiung
noch erwarten würde.

Im Laufe der Jahre vergißt man natürlich viele Einzelheiten
und Daten, aber einige Ereignisse aus dieser unvorstellbar un¬
menschlichen und schrecklichen Zeit in Auschwitz kann und
will ich nicht vergessen.

Die Hinrichtung von Mala Zimetbaum im Frauenlager Birke¬
nau, die mit ihrem Freund Edek Galinski einen Fluchtversuch
unternommen hatte. Wir mußten Appell stehend der Hinrichtung
zusehen. Das sollte als Abschreckung für weitere Fluchtversuche
dienen. Bei der Verlesung ihres Urteils konnte Mala mit einer
Rasierklinge, die sie im Haar hatte — obwohl Jüdin konnte sie als
hoher Funktionshäftling langes Haar tragen -, sich die Pulsader
durchschneiden und dem neben ihr unter dem Galgen stehen¬
den SS-ler ins Gesicht schlagen. Ohne sie zu erhängen, wurde
sie schnell zum Krematorium weggebracht. Mala war im ganzen
Lager bekannt und beliebt. Sie war als erste Lagerläuferin einge¬
setzt, beherrschte mehrere Sprachen und hatte vielen Häftlingen

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und Widerstandsgruppen geholfen. Ihre öffentliche Hinrichtung
sollte der Demütigung und Demoralisierung der Häftlinge dienen.
Durch ihr mutiges Auftreten wurde dies jedoch zu einer Demüti¬
gung der SS und stärkte viele Häftlinge in ihrem Überlebenswillen.

Wann immer im Lager ein Fluchtversuch unternommen wurde,
mußten wir zum Appell antreten und meist stundenlang stehen.
Wir murmelten immer wieder; „Glückliche Reise! Glückliche
Reise!“ Das Zigeunerlager habe ich immer vor meinen Augen. Es
war ein eigener Bereich im Lager Birkenau. Dort waren Männer,
Frauen, Kinder gemeinsam und es herrschte ein lebhaftes und
buntes Treiben, das ich von meinem Block aus immer wieder
beobachtete. Die SS ließ die Familien dort beisammen. Eines
Abends , Anfang August 1944, hieß es „Lagersperre“. Wir mußten
in unsere Blocks. Türen und Fenster mußten geschlossen bleiben.

Am nächsten Morgen, als wir zur Arbeit ausrückten, war im Zi¬
geunerlager gähnende Leere. Alle Menschen waren verschwunden.
Es herrschte Totenstille. In dieser einen Nacht wurden sämtliche
Männer, Frauen und Kinder des Zigeunerlagers von der SS in den
Gaskammern umgebracht und im Krematorium verbrannt. Den
einen Tag noch ein buntes, lebhaftes Treiben und am nächsten
Morgen war alles ausradiert. Diese Totenstille. Das kann ich nicht
vergessen. Ebenso kann und will ich die Ermordung von den
hunderttausenden ungarischen Juden nicht vergessen. Wochen
hindurch kamen die Züge mit Männern, Frauen und Kindern
und wurden direkt von der Rampe weg in Gas getrieben. Die
Kamine der Krematorien rauchten ununterbrochen.

Und kurz vor dem Todesmarsch die Hinrichtung der vier Hel¬
dinnen, die trotz aller Martern bei ihren Verhören niemanden
verraten haben und aufrecht und mutig, voller Verachtung für
ihre Peiniger und Mörder zum Galgen gingen. Ihre Moral, ihre
Menschlichkeit und Solidarität und ihr Tod sind mir ständig im
Gedächtnis und bleiben Vorbild und Verpflichtung,

Um die Zeugnisse ihrer Untaten vor der Welt zu verschleiern
und um keine lebenden Zeugen zurück zu lassen, versuchte die
SS beim Herannahen der Sowjet-Armee das gesamte KZ- Lager
Auschwitz-Birkenau zu räumen und die noch lebenden tausenden
Häftlinge nach dem Westen zu verschleppen.

So wurden auch wir am 18. Jänner 1945, im tiefsten Winter,
ohne geeignete notwendige Kleidung, zum Großteil ohne Schuh¬
werk und ohne Verpflegung aus den Baracken getrieben und
mußten mehrere Tage in langen Kolonnen marschieren, begleitet
und bewacht von SS- Männern mit Bluthunden. Zurückbleibende
wurden von der SS an Ort und Stelle erschossen, sobald sie sich
vor Erschöpfung am Rande des Weges hinsetzten. Und ständig
war unser Weg vom Donner der Gewehrschüsse begleitet.

Zum Übernachten wurden wir in riesige Heuschober und Ställe
getrieben, von wo wir am darauffolgenden Morgen weiter mußten.
Bevor wir weiter marschierten, durchkämmte die SS mit großen
Heugabeln das Heu, um zu verhindern, daß sich einige der Frauen
im Heu versteckt hielten. Unsere Verpflegung bestand aus den
wenigen Würfel Zucker, die unsere Kameradin Betty Wenz (spä¬
tere Hirsch) aus der Lagerküche mitnehmen konnte und die sie
mit uns anderen Häftlingen teilte. Den Durst konnten wir nur
mit Schnee stillen.

Wie lange dieser Fußmarsch dauerte weiß ich nicht mehr,
vielleicht drei Tage. Anschließend mußten wir auf offene Koh¬
lenwaggons, in denen wir dicht aneinander gedrängt am Boden
hockten oder auf Brettern an den Seiten saßen. Bald waren wir
völlig eingeschneit. Viele Frauen hatten schwere Erfrierungen an