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Es gibt in Wien Menschen, die diejenigen nicht
vergessen haben, die vor 70 Jahren unter schreck¬
lichen Umständen dazu gezwungen waren, ihre
Heimat zu verlassen. Es gibt Menschen, die damals
Nachbarn verloren haben und sich jetzt, spät, auf
die Suche nach diesen ehemaligen Nachbarn bege¬
ben. (Verlorene Nachbarschaft, 12f.)

Das 2010 erschienene Buch ist die gelungene
Abrundung der Projekte „Verlorene Nachbar¬
schaft“ von 1998 in Wien und 2008 in Buenos
Aires. Diese Projekte waren der Versuch, eben
diese verlorenen Nachbarschaften wiederzuge¬
winnen, eine Brücke zu bauen zwischen zwei
Städten, zwei Kontinenten.

Die Schwierigkeiten, Erfolge und Enttäu¬
schungen und nicht zuletzt die unerschütter¬
liche Beharrlichkeit und das beeindruckende
Engagement der InitiatorInnen dieser Projekte
werden einleitend durch Erklärungen und Re¬
flexionen des Herausgebers Alexander Litsauer
deutlich. Im Anhang wird dem Leser in einer
Chronologie der Projektarbeit nochmals vor
Augen geführt, wieviel organisatorisches Ge¬
schick nötig war, um zu realisieren, woran auf
österreichischer wie auch auf argentinischer Seite
gezweifelt wurden.

Begonnen hat alles Mitte der 1990er Jahre
in Wien. Damals trafen sich eine Handvoll
Menschen, um der Zerstörung der Synagoge
in der Neudeggergasse 12, Wien-Josefstadt, zu
gedenken. Man begab sich auf die Spurensuche.
1998 konnte ein sechswöchiges Projekt realisiert
werden, für das ehemalige jüdische Nachbarn
nach Wien eingeladen wurden, um mit Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen über damals
zu sprechen. Im Zuge dieses Projektes wurde
die Fassade der zerstörten Synagoge in Form
einer Abbildung auf Leinwand wieder errichet.
Am 9. November 1998, also 60 Jahre nach der
„Kristallnacht“, wurden die Lichter gelöscht
und mit ihnen das Abbild der Synagoge. Es
blieben — und das war wohl ohne Zweifel der
größte Erfolg — nachhaltige Freundschaften,
Nachbarschaften und tiefe Eindrücke, die die
Triebkraft für das Folgeprojekt 2008 wurden.
Nun sollte aber der Schwerpunkt nicht auf die
Vertreibung, sondern auf das Leben im Exil in
Argentinien gelegt werden.

Viele Exilösterreicher waren schon 1998 von
der Idee des Projektes begeistert, doch lehnten
sie aus verschiedensten Gründen einen Besuch
in ihrer alten Heimat, aus der sie verjagt wor¬
den waren, strikt ab. Mit dem Leitgedanken
„Wenn sie nicht nach Wien kommen wollen,
oder können, dann bringen wir eben Wien nach
Buenos Aires!“ wurde das Folgeprojekt 2008 im
zentralgelegenen Parque Thays in Buenos Aires
verwirklicht. Dabei wurde die Möglichkeit für
interkulturelle Begegnungen und Austausch zwi¬
schen Geschichte und Menschen aus Österreich
und Argentinien im Schatten der realitätsgroßen

Leinwand der Synagoge Neudeggergasse 12 ge¬
schaffen.

Es gab neben Vorführungen von Filmklas¬
sikern wie „Der Engel mit der Posaune“ auch
Kurzfilmpräsentationen von argentinischen
StudentInnnen, Schulklassen besuchten die
Ausstellung, Workshops wurden organisiert,
im Telecaf€ bestand die Möglichkeit zu einer
Breitbandvideokonferenz. Künstlerische Hö¬
hepunkte waren unter anderem Auftritte von
Doron Rabinovici, Robert Schindel, Maria Bill,
Otmar Binder, Adi Hirschal und Peter Uray. Bei
Podiumsdiskussionen unter Teilnahme von Ex¬
perten beider Länder kam es zu einem Austausch
von Erfahrungen und Forschungsergebnissen
zu Ihemen wie psychologischer Arbeit mit
Traumatisierten, NS-Fluchtwegen und deren
Ermöglichung, sowie Vergangenheitsbewälti¬
gung. Auszüge sind nun im Buch abgedruckt.
Zudem geben zahlreiche Abbildungen einen
Eindruck von der lebendigen und bewegenden
Atmosphäre der Veranstaltungen.

Als Einstieg in die Materie dient ein Gespräch
von Alexander Litsauer mit Alfredo Bauer und
Alex Szarazgat über die „Aspekte argentinischer
Geschichte und jüdischer Immigration im 20.
Jahrhundert“.

Neben den abgedruckten Vorträgen, Erzäh¬
lungen und Beiträgen — unter anderem von
Clemens Jabloner, Anton Pelinka, Erich Hackl,
Werner Rotter — sind vor allem die Berichte
und literarische Beitrage der ZeitzeugInnen die
Essenz dieser Publikation. Es sind Portrats von
ExilösterreicherInnen der ersten, zweiten und
dritten Generation, Interviews, Aufsätze, Briefe
und Gedichte über die Flucht, die schwierige
Existenzgründung und das Leben als Osterrei¬
cherInnen in Argentinien.

Fesselnde und berührende Biographien von
Vertriebenen, die in Argentinien der Barbarei
des Faschismus entkommen waren, werden dem
Leser spannend vor Augen geführt. Menschen¬
und Rassenhass der NS-Zeit werden ebenso
thematisiert wie die Verbrechen während der
Militärjunta in Argentinien.

Rosette Kleinmann erzählt über die Odyssee,
die sie als Kleinkind mit ihren Eltern mitmachen
musste bevor sie in Argentinien landen konnte,
oder Jorge Hacker, der siebenjährig seine Heimat
verlassen musste und wie Felix Schmer, Kurt
Löwi, Bruno Sontag als Kind die Vertreibung
erlebte. Neben Interviews mit Elfi Steinitz, Karl
Glaser, Julie Hahn und Edith Hendl sprichtauch
Alfredo Schwarcz, der gleich Alicia Todesca oder
Cecilia Gettner als Kind von Emigranten bereits
in Argentinien geboren wurde, von Heimatlosig¬
keit, jüdischem Leben in Buenos Aires und von
Zugehörigkeit zu Österreich und Argentinien.

Viele von ihnen besuchten Österreich mehr¬
mals mit unterschiedlichen Gefühlen, einige von
ihnen fühlen sich immer noch als Österreicher,

Alexander Litsauer, Barbara Litsauer (Hg.)

VERLORENE
WEG CAG UH

SEMIN) A)

andere haben bis heute das Gefühl, nirgendwo
hinzugehören, die meisten haben in Argentinien
eine Heimat gefunden. Aber alle haben eines
gemeinsam: Sie und ihre Familien wurden aus
ihrer Heimat vertrieben, und es dauerte für sie
sehr lange, bis man sich in Österreich eingestand,
ihnen großes Unrecht angetan zu haben.

So sind es glücklicher Weise immer wieder
Einzelne, die die Initiative ergreifen — und dazu
gehört wesentlich das beeindruckende Projekt
„Verlorene Nachbarschaft“. Das Buch ermög¬
licht nun auch jenen, die nicht teilnahmen, mit
dabei zu sein.

Monika Tschuggnall

Alexander Litsauer, Barbara Litsauer (Hg.): Verlo¬
rene Nachbarschaft. Jüdische Emigration von der
Donau an den Rio de la Plata. Wien: Mandelbaum
2010. 357 5. Euro 24,90

Eine Übersetzung ins Spanische wird bei der
Buchmesse in Buenos Aires (20. April — 9. Mai
2011) präsentiert.

Exil in Argentinien

Ein ZW-Schwerpunktheft zu diesem Thema
bereiten Werner Rotter (Literaturarchiv/OLA
in der Österr. Nationalbibliothek) und Monika
Tschuggnall (neu in der ZW-Redaktion) vor.
Die die Exilsituation pragenden historischen
Ereignisse in Argentinien und kulturellen Ge¬
gebenheiten sollen ebenso beleuchtet werden
wie die Initiativen und Aktivitäten des deutsch¬
sprachigen Exils. Um ein möglichst umfassendes
Bild zu entwerfen, werden nicht nur Schriftstel¬
lerInnen porträtiert, sondern auch Schauspieler,
Psychoanalytiker, Architekten, ...

Das Heft soll im September 2011 als Doppel¬
heft erscheinen. Parallel dazu ist die deutschspra¬
chige Erstausgabe des fünfbändigen Romanzyklus
„Die Vorgänger“ von Alfredo Bauer geplant.
Kontakt: tschuggnall@theodorkramer.at

Februar 2011 59