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BERICHTE

„Alma Maters Töchter im Exil“— Zur Vertreibung
von Wissenschaftlerinnen und Akademikerinnen
in der NS-Zeit, Tagung der AG „Frauen im Exil“
an der Universität Göttingen, 29.-31.10. 2010

Die Tagung sollte die Lage von Wissenschaft¬
lerinnen aus diversen Forschungsgebieten in
Deutschland nach 1933 von ihrer Verdrän¬
gung aus dem akademischen Milieu bis zur
Vertreibung ins Exil untersuchen und wurde
mit einem programmatischen Vortrag von
Annette Vogt über „Wissenschaftlerinnen im
Exil — Abbruch, Neubeginn oder Erfolg der
Karrieren?“ eröffnet. Sie warf zunächst die Frage
auf, ob es Proteste gegen die Vertreibung von
Wissenschaftlerinnen nach der nationalsozia¬
listischen Machtübernahme in Deutschland
gegeben habe, konstatierte jedoch nur wenig
Unterstützung durch die damalige männliche
wissenschaftliche Kollegenschaft. Anhand des
Beispiels von Lise Meitner demonstrierte Vogt
weiters, dass sich hohe Qualifikation im Exil
als ungünstig herausstellen konnte, anderseits
viele ExilantInnen im „richtigen“ Alter, d.h.,
nicht zu alt und nicht zu jung, durchaus Kar¬
rierechancen hatten, wie etwa die Genetikerin
Charlotte Auerbach. Vogt nannte dies eine
von fünf Voraussetzungen für eine erfolgrei¬
che wissenschaftliche Tätigkeit im Exil, neben
der „richtigen“ Qualifikation, Referenzen von
bekannten Professoren und Spezialkenntnissen
auf dem jeweiligen Forschungsgebiet. Frauen
mußten ferner bereit sein, in weniger renom¬
mierten Institutionen zu arbeiten.

Inge Hansen-Schaberg referierte über die Situ¬
ation an der Georg-August-Universität Göttin¬
gen in der NS- und Nachkriegszeit. Anhand der
Biographien der Pädagoginnen Minna Specht
und Grete Hermann, die gemeinsam an der
Umsetzung des pädagogischen Konzepts des
Philosophen Leonhard Nelson arbeiteten. Ihre
Lebenswege führten von der Arbeit im Inter¬
nationalen Sozialistischen Kampfbund über
erziehungswissenschaftliche und widerständ¬
lerische Tätigkeiten im Exil bis zur Remigration
nach 1945.

Renate Tobies sprach über die Vertreibung
von Mathematikerinnen und Physikerinnen,
im Anschluss daran Cordula Tollmien über die
Kontakte der Göttinger Mathematikerin Emmy
Noether zu Albert Einstein im amerikanischen
Exil. In Ihrem Vortrag über deutsche Juristinnen
in Frankreich und England, Palästina und den
USA legte Marion Röwekamp den Schwerpunkt
auf die Situation im angelsächsischen Bereich,
wobei sie festhielt, dass Frauen in Großbri¬
tannien (wie auch ihre männlichen Kollegen)
aufgrund des anders gearteten Rechtssystems
kaum Chancen hatten, ihren Beruf auszuüben,
und daher weiter in die USA emigrierten, wo sie

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im juristischen Bereich sogar cher als Männer
Fuß fassen konnten. Eine ähnliche Situation wie
in England bestand in Palästina. /sabel Bauer
berichtete über deutsche Architektinnen, die
nach 1933 systematisch aus ihren Berufen
verdrängt wurden und sich daher schon bald
zur Emigration gezwungen sahen. Bei vielen
bedeutete das Weggehen einen tiefgreifenden
biographischen Bruch. Es kehrte auch keine
dieser Vertriebenen nach Deutschland zurück.

Doris Ingrisch sprach über Vertreibung weib¬
licher Intellektueller aus Wien. Die größten
Berufsgruppen unter den weiblichen Akade¬
mikerinnen, die zur Flucht gezwungen wur¬
den, waren jene der Psychoanalytikerinnen und
der Medizinerinnen. Das universitäre Umfeld
betreffend, stellte sie fest, dass weibliche Ha¬
bilitierte nach dem „Anschluss“ Repressionen
ausgesetzt waren, sich jedoch, mit Ausnahme
der Romanistin Elise Richter, rechtzeitig in Si¬
cherheit bringen konnten. Nur zwei, nämlich
die Philologin Gertrud Herzog-Hauser und die
Medizinerin Carla Zawisch-Ossenitz kehrten
nach Österreich zurück. Danach erörterte Ilse
Korotin anhand des Beispiels der Philosophin
Amalie Rosenblüth, dass Philosophinnen keine
Chance hatten, ihren Beruf im Exil auszuüben,
es sei denn, sie waren als Psychologinnen tätig.
Nach 1945 wurden auch sie nicht zurückge¬
rufen.

Während Christine K. Kaiser und Mirko
Nottscheid immerhin die Bedeutung der in
der Shoah ermordeten Altgermanistin Agathe
Lasch für die mittelniederdeutsche Philologie
samt Darstellung ihres Umfeldes in Hamburg
herauszuarbeiten vermochten, beschränkte
sich Maria Kublitz-Kramer auf eine Diskussion
der wichtigsten Arbeit der Germanistin Käte
Laserstein anhand zeitgenössischer Kritiken,
während deren gescheiterte Fluchtbemühungen
gestreift wurden; dieser Vortrag wäre auf einer
einschlägigen germanistischen Tagung besser
aufgehoben gewesen.

Irene Below interessanter Ansatz über die
Rezeption vertriebener Kunsthistorikerinnen
ab Mitte der 1960er Jahre hätte sich einen bes¬
seren Platz innerhalb des Tagungsprogramms
verdient. Unter anderem untersuchte sie die bio¬
graphische Aufarbeitung der wissenschaftlichen
Karrieren sowie die wissenschaftlichen Projekte
zu dieser Frage. Exemplarisch hob Below da¬
bei das Projekt des Wiener Kunsthistorischen
Instituts hervor, das neben dem „Denkmal für
Ausgegrenzte, Emigrierte und Ermordete des
Kunsthistorischen Instituts der Universität
Wien“ auch eine begleitende Website umfasst.

Christine von Oertzen sprach über das aka¬
demische Frauennetzwerk International Fede¬
ration of University Women, das mit einigem
Erfolg Wissenschaftlerinnen aus Deutschland

und Österreich bei der Flucht unterstützte. Regi¬
ne Erichsen berichtete über die Arbeitsmöglich¬
keiten von vertriebenen Frauen in der Türkei,
die sie am Beispiel Margarete Schütte-Lihotzkys
beschrieb. Regina Weber wiederum befaßte sich
mit der Philosophin und Altphilologin Lotte
Labowski, die bereits 1934 mit der Kultur¬
wissenschaftlichen Bibliothek Warburg nach
London übersiedelte. Labowski widmete sich
dort der Rezeption Platos, war jedoch eine jener
Frauen, die im Schatten ihres Arbeitspartners,
im konkreten Fall ihres Freundes Raymond
Klibanski, stand.

Peter Walther beschrieb die gescheiterten Ver¬
suche der Neuzeithistorikerin Hedwig Hintze,
Europa zu verlassen, wobei in ihrem Fall der
Kriegseintritt der USA und damit auch Kubas
im Dezember 1941, für das Hintze ein Visum
gehabt hätte, den Weg ins sichere Exil endgültig
versperrte. Sie starb 1942 in Holland vermutlich
durch eigene Hand.

Zum Abschluss versuchte Hiltrud Häntzschel
eine Bilanz zu ziehen. Die Chancen von Wissen¬
schaftlerinnen in Deutschland von den 1940er
bis zu den 1960er Jahren waren vergleichsweise
geringer waren in der Weimarer Republik. Der
Ausschluss weiblicher Forscherinnen aus dem
Wissenschaftsbetrieb durch die Nazis wirkte
auch nach 1945 in den Köpfen der männlichen
Kollegen fort. In der DDR hatten Frauen, so¬
fern sie politisch auf Linie waren, wesentlich
bessere Aussichten im Wissenschaftsbetrieb.

Wenn auch die Tagung aus meiner Sicht in
ihrer Intensität nicht ganz an die Veranstaltung
in Kochel 2009 herankam, so boten doch die
meisten Referate neue Erkenntnisse bzw. wur¬
den bisher vernachlässigte Aspekte der Exilfor¬
schung akzentuiert.

Christoph Mentschl

Fußnote: Abgesehen vom Inhaltlichen muss
konstatiert werden, daß in vielen Vorträgen
mit den Begriffen Emigration, Exil, Weggehen,
Auswanderung etwas gedankenlos umgegangen
wurde. Eine der Referentinnen gab auf Nach¬
frage sogar unumwunden zu, dass sie sich mit
terminologischen Fragen nicht befaßt habe —
bei einer Exilforscherln eigentlich verwunder¬
lich. Zu Recht mahnte daher die wie immer
sehr beeindruckende Hanna Papanek erneut
zu sprachlicher Präzision, wobei sie vor allem
den Terminus „Emigration“ als euphemistisch
qualifizierte.