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nichts weiter als ein liberal protestantisches
Missverständnis — das hätte Nietzsche nicht
besser sagen können. Sieht man also genauer
hin, so findet man in Steiners Aufzeichnun¬
gen mehr ideologische Requisiten aus dem 19.
Jahrhundert, als es dem Autor hätte lieb sein
können. Diesen Eindruck des Angestaubten,
den Steiners Notate heute erwecken, teilen sie
übrigens mit den viel entschlossener auf un¬
vergängliche Wirkung hin formulierten Auf¬
zeichnungen Canettis. Es ist um so schöner,
auch bei Steiner immer wieder rein leuchtende
Perlen zu finden, in denen er sich als Stilist von
sprachlicher Sensibilität, differenzierter Beob¬
achtungsgabe und klarem Denken erweist. Es
wäre unsinnig, davon ein Beispiel geben zu wol¬
len, es müssten viele sein. Jeder Leser tauche
selbst nach solchen Perlen.

Über Steiners Leben ist man bislang im we¬
sentlichen informiert durch die Mitteilungen
des Jugendfreundes H.G. Adler. Sie sind in
mehrfacher Hinsicht, zumal in bezug auf das in
Archiven ruhende Material, nicht ausreichend.
Nun hat einer der beiden Herausgeber der
Feststellungen und Versuche, Ulrich van Loyen,
das Wagnis unternommen, eine umfassende
Studie zur Biografie Steiners der Öffentlichkeit
vorzulegen. Allerdings fällt es mir schwer, die¬
ses Buch uneingeschränkt zur Lektüre zu emp¬
fehlen. So interessant die methodische Ent¬
scheidung ist, eine geistige Biographie nicht
allein aus nachweislichen Abhängigkeiten, die
zu einer Art literarischem Stammbaum führen,
sondern auch aus der geschichtlichen, sozialen
und politischen Umwelt herauszuarbeiten: van
Loyen hat des Guten zuviel getan, und so quält
man sich von einem zum anderen nicht einmal
ausdrücklich gekennzeichneten Exkurs und
sucht über weite Strecken vergeblich nach dem
Bild des Mannes, dessen Leben dargestellt wer¬
den soll. Es zerfällt in der barocken Überfülle
des Mitgeteilten. Diesem Buch hat deutlich
ein erfahrenes Lektorat gefehlt, das den äuße¬
ren Umfang um mindestens ein Drittel hätte
kürzen müssen. Auch wäre es bei einer ökono¬
mischeren Darbietung des Materials möglich
gewesen, Details vor der Drucklegung noch
einmal zu überprüfen. Flüchtigkeitsfehler im
Einzelnen, wenn es nicht bloß einzelne sind,
sondern immer wieder dazu kommt, stärken
nicht das Vertrauen in das Ganze des Dar¬
gebotenen. So heißt die Nachlassverwalterin
und Herausgeberin der Werke Karl Wolfskehls
nicht Margot Susman, sondern Margot Ru¬
ben, und die Publizistin und Religionsphilo¬
sophin, die sich mehrfach mit dem Exilwerk
Wolfskehls beschäftigt hat, Margarete Susman
und nicht Margot. Aber ganz beiläufig stellt
sich auch die Frage: Was hat eigentlich der
Name Wolfskehl in einer Biographie Steiners
zu suchen? Sicher könnte er auch fehlen; die
faktischen Angaben van Loyens zu Wolfskehl
sind alle falsch, was er sonst zu ihm schreibt,
ist Paraphrase von Sekundärliteratur und eine
daran sich knüpfende, lose Assoziation, doch

was er über Steiner zu sagen hat, leidet darun¬
ter nicht.

Und wenn schon von Margarete Susman die
Rede ist, die in ihrer Lyriktheorie den Dichter
Alfred Mombert sehr hoch stellte, den auch
Steiner in seiner Jugend geschätzt hatte: Hat es
eine Bedeutung für Steiner, dass neben anderen
auch Hans (nicht Ernst) Carossa sich bei höchs¬
ter Nazi-Stelle erfolgreich für Mombert, der in
einem KZ gefangen lag, einsetzte? Und schlie߬
lich: Ist es interessant, Flias Canetti, wenn dieser
sich Steiner gegenüber nicht immer wie ein gu¬
ter Freund verhalten hat, die eigene Machtthe¬
orie wortreich als Spiegel vorzuhalten? Wem ist
damit gedient? Man sieht: weniger wäre mehr
gewesen, und wenn der Leser sich dieses We¬
nigere aus van Loyens Wälzer herauszusuchen
versteht, so wird er reichhaltig informiert.
Matthias Fallenstein

Franz Baermann Steiner: Feststellungen und Ver¬
suche. Aufzeichnungen 1943 — 1952. Aus dem
Nachlaß hg. von Ulrich van Loyen und Eberhard
Schüttpelz. Göttingen: Wallstein 2009. 534 S.
(Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für
Sprache und Dichtung, Darmstadt, 90). EUR
36,-(D)/37,-(A).

Ulrich van Loyen: Franz Baermann Steiner. Exil und
Verwandlung. Zur Biografie eines deutschen Dichters
und jüdischen Ethnologen. Bielefeld: Aisthesis 2011.
650 S. (CHIRONEIA. Die unwürdigen Künste.
Studien zur deutschen Literatur seit der frühen Mo¬
derne. Hg. von Sven Hanuschek. Ba. 6). Euro 58,¬

Hazel Rosenstrauchs
Essayband Juden
Narren Deutsche

Dies ist kein beglückendes, sondern ein ebenso
verstörendes wie zum Nachdenken anregendes
Buch, das dem Leser kein sanftes Ruhekissen
bereitet. Die „unjüdische Jüdin“ Hazel Rosen¬
strauch widmet sich in ihrem Essayband einer
erstarrten, ja verwalteten Erinnerungskultur, sei
esin Deutschland, sei es in Österreich. Mit Ein¬
dringlichkeit opponiert sie gegen die Macht ei¬
ner bleiern gewordenen, in Ritualen erschöpften
Erinnerungskultur, die „Wiederjudmachung“,
wie der Berliner so treffend sagen würde. In
ihren Texten stellt bekannte und geläufige Ver¬
knüpfungen in Frage „im Streit um Formen der
deutschen Verbewältigung“. Virtuos im Geist,
brillant in der’ Ihematisierung, selbstbewusst in
der Ausführung überschreitet sie die Grenzen
des Gewohnten, wehrt sich gegen Zuschrei¬
bungen und probt das Umgehen mit Wider¬
sprüchen, „statt Widersprüche zu umgehen“.

In Erinnern und Erinnertwerden sind es die
vom Bezirksamt Schöneberg 1993 an Laternen¬
pfählen zum Gedenken an die vielen jüdischen
Bewohner des Bayerischen Viertels angebrach¬
ten Erinnerungstafeln, die in den Fokus ihrer
Kritik geraten:

Die Schilder sind nicht für die Verfolgten und
auch nicht für deren Nachkommen und nicht für
Meinesgleichen gedacht ... diese Tafeln stärken
die Apartheid in den Köpfen.

Bei der gut gemeinten, anfänglich auch von
ihr gut geheißenden Anbringung der Tafeln hat¬
te man vermutlich nicht daran gedacht, „dass
auch ‚Juden‘ an diesen Tafeln vorübergehen“.
Damit fühlt sie sich und mit ihr sicher auch
manch andere, die dort leben, ständig an die
Ausgrenzung ihrer Vorfahren erinnert, auf ihr
Jüdisch-Sein reduziert bzw. festgeschrieben und
als Individuum unter ein religiöses Etikett sub¬
sumiert.

Der Mode, sich mit Juden zu beschäftigen,
Mahnmale zu errichten, Orte jüdischen Le¬
bens zu markieren, Reisen zum Mitfühlen
und Miterleben zu organisieren, begegnet sie
mit Unbehagen und bemerkt ironisch: „(U)m
weitere Entlassungen im Bewältigungsgewerbe
vorzubeugen, bieten wir auch Umschulungs¬
kurse an.“ Nicht gegen die Auseinandersetzung
mit der deutschen Vergangenheit ist sie, wie
sie in ihrem Vorwort schreibt, sondern gegen
das Schubladendenken, da „die Opfer-Täter¬
Zuordnung Auseinandersetzungen
vermeidet.“

Am Beispiel ihrer einst großen Liebe zu einem
„schuldgefühligen Deutschen“ behandelt sie das
Thema Identität: „Anders als Konvertitinnen
und Konvertiten, die mittlerweile bei Juden
Identität borgen, kann ich aus dem Verein nicht
austreten.“ Ihre eigene Haltung zeichnet sie
selbst als eine der Unzugehörigkeit:

Ich bin Jüdin, Österreicherin, Engländerin,
Historikerin, Soziologin, Kulturwissenschaftle¬
rin, Journalistin, Autorin, Mutter, Schöneber¬
gerin, Frau natürlich ()) ... Schön wäre es, ich
könnte die Entscheidung darüber, wer ich bin,
selbst treffen.

Als Antwort auf die aktuelle Sarrazin-Debatte
in Deutschland um Fragen der Genetik, Evo¬
lutionsbiologie und Intelligenz lässt sich ihr
scharfsinniger, bereits 1999 erschienener Essay
Ist Emigrans erblich? lesen.

Ein erschütterndes Dokument über Flucht,
Vergeltung und Verantwortungslosigkeit ist der
Text Mein neuer Großvater, ein Bericht ihrer
Reise zu einer Gedenkveranstaltung für die
Opfer des Kladovo-Iransports (vgl. ZW Nr.
3/2002, S. 4-6), unter denen auch ihr Großvater
war. Von ihm hatte sie den „auffallend blumigen
Namen“, der ihr „jahrelang eine Last war“, der
aber „recht spät ein Medium der Erkenntnis
wurde.“

Um nichts weniger als um Erkenntnis, um
Vertrauen in die Aufklärung geht es Hazel Ro¬
senstrauch in ihren Artikeln. Deswegen wendet
sie sich lebhaft gegen „gefühlte Museen, gefühlte
Geschichte, erfühltes Schauern“ und „Fühlma¬
le“, die „zum Parcours für Touristen“ werden.

Der Achse des Bösen stellt sie ihre Achse des
Guten, einen mutig sein wollenden Umord¬
nungsversuch gegenüber: „Wir haben nach
9/11 verloren. Wir? Ist es nicht pathetisch,
nostalgisch und politisch inkorrekt, wenn ich

Februar 2011 61