formulieren würde: wir, die wir differenzieren
wollten?“
Die Querdenkerin Hazel Rosenstrauch, die
„weder Berufsjüdin noch Fachfrau für jüdische
Themen“ ist, liefert keine einfachen Deutungen.
Sie sucht den Dialog, weil der Dialog Bewegung
ist und der Auseinandersetzung bedarf: „Es ist
alles so komplex und schwierig und noch lange
nicht zu Ende; ich assoziiere anders und deshalb
bin ich jüdisch. Oder wars umgekehrt?“
Am 3. März 2009 wurde in Köln für Archivare
und Historiker ein Albtraum wahr: Der Ein¬
sturz des historischen Archivs der Stadt, verur¬
sacht vom U-Bahn Bau in unmittelbarer Nähe.
Es war die größte Gefährdung von Kulturgut
seit dem Zweiten Weltkrieg.
Betroffen waren 27 Kilometer von Archivali¬
en, unikalen Urkunden, Schriften und Nachläs¬
sen, darunter auch der in den Medien oft zitierte
Nachlass des Nobelpreisträgers Heinrich Böll.
Beispiellos war aber nicht nur die Katastrophe,
sondern auch die anschließende Rettungsakti¬
on. 1.800 freiwillige in- und ausländische Hel¬
ferInnen bemühten sich in den ersten Monaten
um die Erstversorgung der verschütteten Archi¬
valien und verhinderten damit ihren Totalver¬
lust. Die Archivalien wurden soweit notwendig
gefriergetrocknet und in 19 Asylarchiven unter¬
gebracht. Rund 85 Prozent konnten bis 2010
geborgen und erstversorgt werden. 35 Prozent
des Archivguts hatten schwerste, 50 mittlere
und nur 15 Prozent leichtere Schäden. 200 Re¬
stauratoren werden weitere 30 Jahre langan der
Behebung der Schäden arbeiten müssen, wofür
370 Millionen Euro notwendig sein werden. In
Lisette Buchholz und ihrem persona verlag
ist zu danken, dass sie diesen Essayband einer
Unbequemen, der auch eine kleine Kulturge¬
schichte der Narren enthilt, herausgegeben hat.
Christiane Puschak
Hazel Rosenstrauch: Juden Narren Deutsche.
Mannheim: persona verlag 2010. 157 S. Euro
14,50
Zukunft wird das Archiv seine Heimat in einem
im September 2009 beschlossenen Neubau am
Eifelwall finden. Mittels Digitalisierung soll,
wie Bettina Schmidt-Czaia, die Direktorin des
Archivs, schreibt, aber nicht genauer ausführt,
die Wiederholung einer solchen Katastrophe
verhindert werden.
Der vorliegende Sammelband beschreibt
sowohl die Geschichte des Archivs als auch
anderer Archive in Köln, die einzelnen Schrit¬
te der Bergungsaktionen und die Folgen der
Katastrophe für die künftige Archivpolitik. Die
Beiträge des zweiten Teils widmen sich den Fol¬
gen des Einsturzes für die Historiographie der
Kölner Stadtgeschichte. Über die möglichen
technischen Ursachen und Fehleinschätzungen
enthält der Band, mit dessen Erlös die Restau¬
rierungsarbeiten unterstützt werden, auffällig
wenig.
Bettina Schmidt-Czaia, Ulrich S.Soenius (Ag.):
Gedächtnisort. Das Historische Archiv der Stadt
Köln. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2010. 197
S. Euro 19,90
Eva Kollisch, die spatere feministische Litera¬
turwissenschaftlerin, wird 1925 in der Kurstadt
Baden nahe Wien in eine jiidische Familie gebo¬
ren. Sie ist die Tochter der Lyrikerin Margarete
und des Architekten Otto Kollisch. Von klein
auf muss sie lernen, sich gegen antisemitische
Anfeindungen und Demiitigungen zu wehren,
und mit dem Gefühl leben, eine Außenseiterin
zu sein. Ihre beiden Brüder und sie leiden von
Beginn an mehr unter der Diskriminierung
als ihre Eltern: „Erwachsene erschaffen ihre
Welt, Kinder finden sie vor“, schreibt sie in
ihren soeben im Czernin Verlag auf deutsch
erschienenen Lebenserinnerungen. Nach dem
„Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland
1938 sehen auch die Eltern die Gefahr und
die Flucht als einzige Überlebenschance. Die
Kinder entkommen mit einem Kindertransport
nach England, die Eltern gelangen über ein
Affidavit eines Verwandten in die USA: „Im
Frühling 1940 wurde meine ganze Familie
. auf Staten Island ... wieder vereinigt.“
Im Vorwort zu ihren autobiographischen
Aufzeichnungen schreibt sie: „Wir waren
unter denen, die Glück hatten ... Trotzdem
haben diese Jahre der frühen Kindheit in Nazi¬
Österreich ihre Spuren hinterlassen.“
Nicht in chronologischer Reihenfolge wid¬
met sie sich in ihren Lebenserinnerungen „ihren
Narben“: ihrer Kindheit, die plötzlich zu Ende
war, ihren Erfahrungen mit Antisemitismus und
erzwungener Emigration, mit Heimatverlust
wie Verfolgung und Entwurzelung. Stets ist
der Balanceakt zwischen Außenseitertum und
Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit sowie
Anerkanntwerden im Fokus ihrer Betrachtun¬
gen. So z.B., wenn sie Geborgenheit in einer
trotzkistischen Gruppe sucht. Jedoch ist sie zu
sehr Individualistin, um sich auf Dauer dem
Druck hierarchischer wie patriarchalischer
Strukturen zu beugen. Trotzdem bleibt sie
Sozialistin.
Im Kapitel Heimweh schildert sie freimütig,
wie Mutter und Tochter sich bei der Beurteilung
der Politik Amerikas entfremden. Ihre Mut¬
ter weigert sich, „Amerika ... zu verurteilen
... für seine Rolle im Vietnamkrieg, für seine
ökologischen Verwüstungen, den Rassismus,
Militarismus und seine Homophobie“. Auch
die unerschütterliche Liebe ihrer Mutter zum
„Täterland“ Österreich führt zu Dissonanzen.
Erzählend versucht Eva Kollisch, Erlittenes
und Erfahrenes zu verstehen, die eigene Ge¬
schichte auszuleuchten. Sowohl berührende wie
eindrucksvolle Porträts gelingen ihr dabei, wie
etwa das von ihrem Vater in seinen Schwächen
und Stärken:
(Wie muss er gezittert haben ... in der gro¬
‚en Welt — ein nervöser, kränklicher, jüdischer
Geschäftsmann im konservativen, vom Antisemi¬
tismus vergifieten vor-hitlerischen Österreich. Was
für ein Hochseilakt muss es für ihn gewesen sein,
Selbstvertrauen und Sorglosigkeit auszustrahlen.
In dem in Auszügen abgedruckten Brief¬
wechsel zwischen ihren Eltern erspürt sie die
Liebe ihres Vaters für seine Kinder und erkennt
seinen zeitweiligen Jähzorn, unter dem sie als
Kind gelitten hat, als Maske und Selbstschutz.
In dem Porträt Mimi Großbergs, einer Freun¬
din ihrer Mutter, entwickelt sie Verständnis für
deren unermüdlichen Einsatz für die österrei¬
chische Kultur — „etwas in mir war dabei auf¬
zubrechen, etwas löste sich in meiner Seele.“
Feinfühlig beschreibt sie auch die Treffen der
„American Kindertransport Association“, auf
denen zwar vertraulich über Persönliches und
Belastendes gesprochen wird, aber sie selber
Ängste plagen, ihre Liebesbeziehung zu einer
Frau öffentlich werden zu lassen. Zu stark ist
das Gefühl, wieder an den Rand gedrängt wer¬
den zu können. Ihrem späteren Coming-out
wird mit Akzeptanz begegnet, „(d)ennoch hatte
ich die johlende Menge gefürchtet, wie ich es
immer tue.“
Wie Denken „vertrauensvoller“ werden kann
und „Erinnerung nicht länger eine Barriere“
darstellen muss, erfahren die Leser in dem Kapi¬
tel Das „Du“ kam wie von selbst. Nachdrücklich
wird der schwierige Weg der Kontaktaufnahme
von drei ehemaligen Mitschülerinnen mit ihr
und deren „Offenheit und Warmherzigkeit“
festgehalten. Teile ihrer Briefe sind im Anhang
abgedruckt. Dass einige Wunden geheilt werden
konnten, verdankt sie ihnen.
Trotzdem kann es in den ungewöhnlichsten
Momenten geschehen, aber besonders, wenn ich
mein ‚Vaterland‘ besuche, dass der Boden unter
meinen Füßen zu schwanken beginnt.
Das mit einem ebenso einfühlsamen wie auf¬
schlussreichen Nachwort der österreichischen
Schriftstellerin Anna Mitgutsch versehene und
von Astrid Berger glänzend übersetzte Buch ist
ein wichtiges Zeitdokument, das sich eindring¬
lich, offen und ehrlich den Fragen der Vergan¬
genheit wie Gegenwart stellt und vorschnelle
Antworten meidet.
Christiana Puschak
Eva Kollisch: Der Boden unter meinen Füßen. Wien:
Czernin 2010. 176 S. Euro 19,80
(Auszüge aus dem Buch sind in ZW Nr. 3-4/2009
nachlesbar.)