OCR
—des einziehbaren Fahrwerks - teilgenommen. Das Fahrwerk ist dabei in Stücke gegangen. Der Flieger erzählt Kertner davon und bittet ihn als Fachmann um Hilfe. Dafür hat der Flieger, dank seiner Autorität, für Kertner einen Passierschein zum Besuch des Militärflugplatzes erwirkt, und Kertner macht sich mit der noch unbekannten, geheim gehaltenenen Konstruktion vertraut. Weil es dort verboten ist, zu zeichnen oder gar zu fotografieren, merkt sich Kertner dank seines seltenen visuellen Gedächtnisses die Mechanik des einziehbaren Fahrwerkes und fertigt im Hotelzimmer eine Konstruktionszeichnung an. Die Informationen, die Manewitsch-Kertner der Zentrale zugehen lässt, sind so wichtig, dass er von den stalinistischen Repressionen des ganzen Apparates des Nachrichtendienstes der RKKA nicht ausgenommen bleibt. Manewitsch ist auf seinem Posten unabkömmlich. Der große Arbeitsumfang wird ihm zu viel. Kertner wirbt mit Zustimmung der Zentrale Agenten unter italienischen antifaschistischen Illegalen an. Aber die italienischen und deutschen Spionageabwehren sind wachsam. Sie verhaften Kertners Mitarbeiter Pascuale Esposito, und dieser verrät unter Folter Kertner und seine Helfer. Kertner und einige seiner Agenten werden arretiert. Später begeht Pascuale Esposito Selbstmord. Ein Sondertribunal in Turin verurteilt Kertner im Jänner 1936 zu zwölf Jahren Freiheitstrafe, aber es wird nicht geklärt, für welchen Nachrichtendienst er überhaupt gearbeitet hat. Manewitsch befindet nach dem Urteil in verschiedenen Gefängnissen, darunter in dem berühmten Kerker „Regina Coeli“ zu Rom. Die Zentrale ergreift — was schr selten war in der Geschichte der sowjetischen Nachrichtendienste — Maßnahmen zu Etjens Befreiung. Eine Sonderkommando wird vorbereitet. Aber dann kommt das Jahr 1937. Die ganze Leitung der GPU fällt der „Säuberung“ zum Opfer, darunter auch Jan Bersin. Aber Manewitsch wird nicht als Verräter diskriminiert. Und noch etwas Seltenes: Im Gefängnis organisiert Manewitsch mit Hilfe von antifaschistischen Häftlingen ein Funkgerät und sendet seiner Zentrale weiter Informationen, welche er von Mithäftlingen, die vor der Verhaftung in Rüstungsbetrieben beschäftigt waren, erhält. Möglicherweise verdächtigt die italienische Spionageabwehr Kertner der Zungehörigkeit zum sowjetischen Geheimdienst, aber die Beweise fehlen. Die italienische Dienste entscheiden, Manewitsch an einen entlegenen Ort zu bringen. Er kommt in das Gefängnis auf der Insel Santo Stefano. Eine Flucht ist hier unmöglich. Mehr als zwei Jahre verbringt Manewitsch in diesem Zuchthaus, in dem auch führende italienische Kommunisten und Sozialisten inhaftiert sind, und erkrankt unter den schweren Haftbedingungen an Tuberkulose. Inzwischen hat sich die Kriegslage geändert. Am 10. Juli 1943 ist die 15. englisch-amerikanische Armeegruppe in Sizilien gelandet. Am 9. September befreien Landetruppen der Alliierten die Häftlinge auf Santo Stefano. Der amerikanische Hauptman nimmt eine Gruppe von Häftlingen auf seinem Motorboot mit; Manewitsch kann mit einer anderen Gruppe auf einem Segelboot das Festland erreichen. Als das Segelboot im Hafen von Gaeta ankommt, patrouillieren deutsche Soldaten auf den Straßen. Gaeta ist in der Hand der Deutschen. Der Besitzer des Segelbootes hat die ihm Anvertrauten verraten. Manewitsch wird verhaftet und der Gestapo übergegeben. Wieder Kerker, wieder furchtbare Folterungen. Unterwegs zum 12 ZWISCHENWELT Verhör, entscheidet sich Manewitsch, sich auf keinem Fall als der Österreicher Konrad Kertner zu erkennen zu geben. Wenn sich die Gestapo mit Wien in Verbindung setzt, erführe sie, daß er Agent sei. Dann käme er nie mehr lebendig aus der Folterkammaer. Er behauptet, ein sowjetischer Kriegsgefangener zu sein, Oberst Starostin. Papiere hat er keine; auf der Insel San Stefano sind die Alliierten. Ein Nachprüfung ist unmöglich. Nach den Verhören wird Oberst Starostin nach Österreich, ins KZ-Mauthausen, wo sowjetische Offiziere gefangen sind, überstellt. Danach kommt er in die KZs Melk und schließlich Ebensee. In der russischen Literatur über Manewitsch fragt man sich, warum er nicht mit dem Boot der englisch-amerikanischen Truppen gefahren sei. Ich könnte mir vorstellen: Hätte er sich bei den Amerikanern als sowjetischer Offizier deklariert, wäre er repatriiert worden und eine sowjetische Abwehrdienststelle hätte sich mit ihm befasst. Manewitsch wußte: Das führte meistens zur Verhaftung, zur Anklage der Spionage gegen die Sowjetunion und dann - zur Erschießung. Besser schien es da, aus einem Kriegsgefangenenlager befreit zu werden. Man denke nur an die vielen falschen Anklagen, mit dem Feind zusammengearbeitet zu haben, die gegen zurückgekehrte Agenten erhoben wurden! Daher entschieden sich etliche sowjetische Agenten, nicht zurückzukehren: so Alexander Orlow, Leiter der sowjetischen Agentur im Spanischen Bürgerkrieg, Fedor Raskolnikow, Botschafter in Bulgarien und Verfasser eines Absagebriefes an Stalin. Sie sind nicht zurückgekehrt, aber Verräter wurden sie nicht. In den Lagern hielt sich Oberst Starostin tapfer. Obwohl krank, nahm er an der Gründung von Untergrundgruppen der Gefangenen teil. Überlebende des Lagers Ebensee erzählen, Oberst Starostin habe 16.000 Gefangene vor dem Tod gerettet. Kurz vor Kriegsende wollte der Lagerkommandant, um die Spuren zu verwischen, die Stollen zusammen sprengen und die Gefangenen in ihnen verschütten. Manewitsch habe von der Vorbereitung dieser Aktion erfahren und in drei Sprachen geschrieen, nicht in die Stollen zu gehen. Zwei Tage danach, am 6. Mai 1945, wird das KZ Ebensee von den Amerikanern befreit. Manewitsch ahnt seinen Tod und bittet einen der Gefangenen, der Zentrale zu melden, dass er nicht Jakow Starostin, sondern Oberst Lew Manewitsch sei. Lew Efimowitsch Manewvitsch stirbt zwei Tage nach Kriegsende. Sein Grab befindet sich im Südteil des Friedhofs St. Martin in Linz. 20 Jahre nach seinem Tod wird ihm 1965 der Titel eines Helden der Sowjetunion verliehen. Dank der Bücher von Eugen Worobjow „Die Erde, poste restante“ (1969), „Etjen und sein Schatten“ (1978) und dem Film von Wenjamin Dorman „Die Erde, poste restante“ (1973) wird er berühmt. Straßenbenennungen in Ischaussy und anderen Städten, sowie eine Gedenktafel in Samara, wo er gearbeitet hat, erinnern an ihn. Ohne die Verdienste sowjetischer Konstrukteure in Abrede zu stellen, möchte ich doch vermuten, dass die Jagdflieger und -bomber der Büros Iljuschin, Lawotschkin und Jakowlew, die Flugzeugkanonen des Büros Nudelman auch auf den Beiträgen des hervorragenden Kundschafters Lew Manewitsch beruhten. Isaak Malach, geb. 1936 in Tschudnow (UdSSR), Ingenieur, Komponist, Schriftsteller, lebt seit 1992 in Wien. Er ist Verfasser eines Buches über eine russisch-jüdische Kindheit in der Zeit des deutschen Vernichtungskrieges: „Isja, ein Kind des Krieges“ ist in der Buchreihe „anders erinnern“ mit einem Vorwort von Veronika Seyr erschienen (Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft).