So einsam wie der Wüstenwind.
So heimatlos wie Sand:
Wohin ich immer reise,
Ich komm nach Nirgendland.
Mascha Kaleko, „Kein Kinderlied“, erste Strophe
Eine Überlebende aus Budapest
Ich möchte einige Überlebende vorstellen.
Wir trafen uns jeden Mittwoch Nachmittag zu einem
Gespräch. „Nie wieder werde ich nach Budapest fahren“,
versicherte sie mir öfters. Nach Wien schon — ihre Mutter
hatte Wien so geliebt. In Wien wurde die Kleidung für die
Familie eingekauft und ins Kaffehaus gegangen wegen der
Atmosphäre. Sie verbindet persönlich nur Gutes mit dieser
Stadt. Doch Budapest und Ungarn - nie wieder. Ihr Sohn hat
versucht, Budapest von Wien aus zu besuchen; leider hat er
damals kein Visum erhalten.
Sie kommt aus einem sehr wohlhabenden Haus in Budapest.
Dort lebte sie mit ihren Eltern und zwei Brüdern - völlig inte¬
griert als Ungarn. Der Vater und die Brüder arbeiteten in der
Herstellung und dem Verkauf von Ledertaschen. Als junges
Mädchen konnte sie sich ein Leben nur in Budapest vorstellen.
Nur schwer verkraftete sie die langsam sich immer mehr ver¬
ändernde Haltung der Nachbarn. Sie wartete bis zum letzten
Augenblick (1939), um ihrem Mann nach Chile zu folgen. Er
hatte wie durch ein Wunder ein Visum erkämpft und mußte
sich zwischen seiner Mutter und seiner Frau entscheiden.
Ihre Mutter starb vor dem Krieg. Am Bahnhof Keleti brachte
sie der Vater zum Zug nach Italien. Dort weinte sie alle Tränen
der Welt. Wenn sie von diesem Abschied sprach, konnten wir
beide nachher nur noch schweigen.
Der Vater ist kurz nach dem Krieg gestorben. Niemand hat
ihr gesagt wo er begraben liegt.
In Chile arbeitete sie mit ihrem Mann auch in der Leder¬
branche, so wie ihre Familie in Budapest. Ihre schönen Hand¬
taschen sind berühmt. Mit dem Sohn haben sie Spanisch und
Englisch gesprochen.
Eines Tages erzählte sie mir, daß sie vor einigen Jahren einen
Zustand erlebt hat, der ihr große Angst einflößte: Sie konnte
monatelang nicht sprechen. Nur langsam kam die Sprache
wieder zurück — der Hals war wie zugeschnürt.
Bei jedem unserer Gespräche spürte ich ihre Verbindung zu
Europa. So versuchte ich, ihr vom gegenwärtigen jüdischen
Budapest zu erzählen. Sie ließ es kaum an sich heran. Eines
Tages brachte ich ihr eine Broschüre über das jüdische Leben
in Budapest — mit vielen Fotos; ich hatte sie in der Dohanyi
Synagoge gekauft.
Als ich mich von ihr verabschiedete, weil ich nach Wien
fahren mußte, bat sie mich, ihr die Broschüre zu überlassen.
Sie erklärte, daß da ein Bild von der Dohanyi Synagoge sei.
Dort habe sie geheiratet, es war der glücklichste Augenblick
in ihrem Leben, da waren sie noch alle zusammen. Sie strahlte
so viele Gefühle aus in diesem Moment, auch Glück - ein
unvergeßlicher Augenblick in unserer Begegnung.
Sie hat an die alte Heimat anknüpfen können, und es war
ein großer Schritt zu einem inneren Frieden. Sie ist durch das
Bild der ihr so bekannten Synagoge ein wenig mehr „zuhause“
angekommen, auf ihre Art und Weise. Keilson meinte, in die¬
sem Augenblick hat sich etwas Offenes, eine Kluft geschlossen.
Sie ist gestorben und ruht auf dem ungarischen Teil des jüdi¬
schen Friedhofes Conchalt in Santiago. Nun besuche ich sie an
diesem Ort.
Eine Überlebende aus Bialystok in Polen
Wir arbeiteten gemeinsam in der Bibliothek der Villa Israel
und ordneten die alten jiddischen Bücher ein, die Überlebende
nach Chile gebracht und dann der Bibliothek geschenkt haben.
Sie konnte sich nur im Rollstuhl fortbewegen und litt an großen
Schmerzen. Bei der Arbeit mit den Büchern ihrer Welt von damals
vergaß sie die Schmerzen und „rutschte“ in eine frühere Zeit.
Jedes Buch wurde mit Inhalt und Autor vorgestellt und dann
in Verbindung mit ihrer Lebensgeschichte gebracht — eine un¬
vergeßliche Reise durch das jüdische Polen von damals. Eine
wunderbare Lehrerin, die mir ihre Liebe zu der jiddischen Welt
als Geschenk und als Aufgabe weitergab. „Bitte schreibe ein Buch
über die jüdische Kultur in Bialystok“, sagte sie oft.
Ihr Vater starb sehr früh und ihre Mutter mußte sie und ihren
Bruder alleine erhalten. Sie lebten in sehr ärmlichen Verhältnis¬
sen. Für eine gute Schulbildung wurde immer gesorgt. Die große
Leihbibliothek wurde ihr zweites Zuhause und die Bücher zu
ihren besten Freunden. Sie konnte sich ein Leben ohne Bücher
gar nicht vorstellen.
Ihr bewußt gelebtes jüdisches Leben in Bialystok war für sie ein
Zeichen des Widerstandes gegenüber dem ständigen Antisemitis¬
mus. Widerstand wurde ein Teil ihres Alltags. Sie erlebte ihre in
sich geschlossene jüdische Welt als einen Schutz, ein Fundament,
das ihr ermöglichte, in der polnischen, meist judenfeindlichen
Umgebung zu leben.
Ein besonderes Geschenk war für sie die Zeit, die sie mit ihrer
Großmutter in Zablodow, einem Schtetl in der Nähe von Bi¬
alystok, verbringen durfte. Die Krönung war der gemeinsame
Besuch in der 500jährigen, aus Holz gebauten Synagoge. Sie hat
sie sehr geliebt.
Ihre Muttersprachen waren Jiddisch und Polnisch. Ihre Mutter
sprach Jiddisch, Russisch und Polnisch. Polen war für sie wie eine
Stiefmutter, von der sie gerne mehr Liebe erhalten hätte — aber
nie bekommen hat. Sie flüchtete siebzehnjährig mit ihrer Familie
noch vor dem Krieg nach Chile. Sie brachte ihr „Zuhause“ in
einem inneren Gepäck mit: die Liebe zu den Büchern, zur jiddi¬
schen Sprache, den jiddischen Liedern und ihr bewußt gelebtes
Judentum...
Dieses innere Gepäck halfihr, das Exil anzunehmen. Sie bildete
in Santiago Lerngruppen für Menschen, die in der gleichen Situa¬
tion waren wie sie. Bei diesen Ireffen wurde Literatur studiert und
Jiddisch gesprochen. Die Kultur ihrer Kindheit wurde zu einer
Kraftquelle, die sie stärkte und gleichzeitig ihren Schmerz und die
Einsamkeit etwas linderte. Später gründete sie die Jiddisch-Gruppe
„Batshevis Singers“, mit der Aufgabe, die jiddische Sprache und
Kultur zu pflegen und an die nächsten Generationen weiterzu¬
geben. Heute hat diese Gruppe einen Platz in dem jiddischen
Bereich der Villa Israel gefunden.
Jetzt im Alter drängen die alten Schatten der Shoah wieder an die
Oberfläche. Die Kraft, die Schmerzen dieser unheilbaren Wunde
zuzudecken, ist nur mehr gering. Sie begegnet diesen Schatten
mit ihren Büchern und Musik. Wie oft saßen wir zusammen und
hörten den alten Liedern zu, die ihre Mutter ihr damals als Kind
vorgesungen hatte; eine wunderbare Ruhe war im Zimmer zu
spüren, und sie konnte dann einschlafen.