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Radzyner: Diese sieben oderacht Jahre, in denen Sie in Großbritan¬
nien eigentlich erwachsen wurden, hat das auch ihr weiteres Leben
geprägt, ihren Weg zur Psychologie und Pädagogik? Und wollten Sie
dann auch wirklich zurückkehren? Sie hatten sich vorgenommen,
dass Sie das wollen. Haben Sie das nie bereut?

Fischer: Ich habe nach eineinhalb Jahren ein Stipendium für eine
Internatsschule bekommen, eine sogenannte Public Schoolfor girls in
Bristol. Dort hatten wir eine Französischlehrerin, die aus Frankreich
kam, und die hat uns, und mich ganz besonders, beeindruckt, weil sie
selbst schon ein Flüchtling war und in der Klassezu weinen begonnen
hat, und wir haben großes Mitleid mit ihr gehabt. Und auch sonst
war die Situation sehr schwierig während des Kriegs.

Ich war, nachdem ich die Schule verlassen hatte, zwei Jahre bei der
Anna Freud. Dort habe ich das Meiste gelernt, das ich je in meinem
Leben gelernt habe, in der Pädagogik und Erziehung und in der
praktischen Arbeit. Dann habe ich im österreichischen Kindergar¬
ten des Austrian Centre gearbeitet — das war eine kommunistische
Organisation der Flüchtlinge. Das hat schr viel geholfen, dass man
diese Möglichkeit des Zusammenseins mit Landsleuten hatte. Ich war
nicht die einzige, die zurückgefahren ist, ein Großteil der Rückkehrer
kam vom Austrian Centre. Und das war auch mein Halt, wie ich
zurückgekommen bin.

Keine Ressentiments erlebt

Joana Radzyner: Frau Tausig, Sie waren ein bisschen älter, Sie
waren 18 Jahre alt, hatten in Wien schon einige Jahre gearbeitet,
weil Sie die Familie unterstützen mussten, und auch für Sie war
das Austrian Centre in London eine sehr wichtige Stütze. Und sie
waren auch eine Hausangestellte. Können Sie erzählen, wie das
für Sie gewesen ist?

Johanna Tausig: Ich war bei einem jungen Paar mit einem kleinen
Kind, daszehn Monate alt war. Es war ein Drei-Bedroom-Haus, also
ein relativ kleines Haus. Ich hätte aufräumen sollen, mich um das
Kind kümmern, ein bisschen waschen, aber ich war nicht wirklich
darauf vorbereitet. Ich kam zwar nicht aus einem Nobelhaushalt,
aber da ich arbeiten gegangen bin und meine Mutter zu Hause
war, hat sie den Haushalt gemacht. Ich habe halt so gut ich konnte
gearbeitet und anscheinend war es nicht schlecht, weil siemich nicht
rausgeworfen haben. Ich bin dort zweieinhalb Jahre geblieben, weit
länger als die meisten, die schon bei Ausbruch des Krieges, wo man
sich für Kriegsdienstmelden konnte, ausdem Haushalt weggegangen
sind. Ich bin noch geblieben, weil sie eigentlich meine Lebensretter
waren, und ich wollte sie erst verlassen, bis das Kind wenigsten ein
bisschen größer war.

Radzyner: Und davor? Wie war das für Sie, die 18-jährige, dieses
Gefühl, dass sich plötzlich alles ändert? Ihnen wurde ja der Job ge¬
kündigt, auch die Wohnung...

Tausig; Ja, mir wurde der Job gekündigt, die Gemeindewohnung,
mein Bruder war arbeitslos, mein Vater war schon tot, meine Mutter
hat nicht gearbeitet, wir standen also mit dem Rücken zur Wand.
Meine Mutter hatzwar noch gemeint, dass esjawohlhabende Juden
gibt, die jetzt kein Geschäft mehr haben, aber immer noch Geld,
vielleicht brauchen die eine Hausgehilfin, dass ich also nicht in einer
Firma arbeite, aber das war absurd und wäre nur eine kurzfristige
unsichere Geschichte gewesen. Aber Tatsache war, man musste weg
und schauen, dass man die anderen Verwandten rausbringt. Und das
ist mir Gott sei Dank bei den Jungen—Cousine und Cousin -gelun¬
gen, die konnte ich beide raus bringen, bei der alteren Generation,
also Eltern und Tanten, da war nichts zu machen.

60 _ ZWISCHENWELT

Radzyner: Welche Erinnerungen haben Sie an die britischen Be¬
hörden, überhaupt an dieses Gastland?

Tausig: Ich habe nirgends, obwohl ich am Anfang kein Wort
Englisch konnte, persönlich Ressentiments oder Antagonismus
in irgendeiner Form erlebt. Natürlich, ein junges Mädchen hat es
leichter als ein Mann in mittleren Jahren oder eine Frau, das muss
man schon sagen. Die Jungen haben mich „angeblödelt“, wenn ich
einkaufen gegangen bin, haben mir eigenartige sprachliche „Tipps“
gegeben. Ich habe gewusst, das soll ich natürlich nicht tun; das war
ein normales Verhältnis zwischen jungen Leuten. Ich habe in dieser
Hinsicht wirklich absolut gute Erfahrungen gemacht.

Wie das Kind zweieinhalb Jahre alt war, bin ich also weggegangen
und habe „Work“ begonnen. Das erste war, Uniformen nähen — da
konnte ich noch eher zusammenräumen als an einer elektrischen
Maschine nähen. Aber ich habe das irgendwie geschafft, und das
ist ganz gut gegangen. In diesem Betrieb wurde ich dann zum Be¬
twiebsrat gewählt, zur Betriebsrätin, was ja beweist, dass es keinen
Ausländerhass gab, da konnte ich natürlich schon Englisch. Ich
habe mich auch herumgestritten, aber der Boss hat mich fristlos
entlassen, und eine zweite Österreicherin gleich mit, obwohl die gar
nichts damit zu tun hatte.

Ich bin dann ins Austrian Centre gekommen, zu Young Austria
gestoßen, war in der Spielgruppe und eine totale Aktivistin, sieben
Tage haben nicht ausgereicht. Und da fiel der Beschluss, dass wir bei
der erstbesten Möglichkeit zurückgehen.

Wir sind sehr früh zurückgegangen, das war im März, 46, da
gingen wir noch illegal zurück. Wir mussten uns gegen Pocken
impfen lassen, durften aber niemanden sagen, warum uns der Arm
so geschwollen war, und sind dann sozusagen offiziell zu einem Ge¬
werkschaftskongress nach Paris gefahren. Beim Zoll in Paris haben
sie sich gewundert, warum wir bei einem Gewerkschaftskongress
z.B. Kochgeschirr und Winterstiefeln brauchen. Wir sind eine
Woche in Paris geblieben, da waren schon Young Austria-Leute aus
Frankreich, die uns durchgeschleust haben, und so sind wir Ende
Marz in Wien gelandet.

Radzyner: Und wie war der Schock in Wien? Es war ja schon ein
Mieter in Ihrer Gemeindewohnung, wie haben Sie das erlebt?
Tausig: Ja, das war schlimm, cher peinlich. Erst wollte ich nicht, bin
aber dann doch gegangen, wollte einfach nur schauen. Das war ein
Gemeindebau mit einem Innenhof. Ich bin dort hinein und da hat
mich ein Mannanscheinend erkannt. Und weil ich so herumgestan¬
den bin im Hof, hater fragt: „Suchen Sie etwas?“ Dann sind viele Leute
zusammen gekommen: Wo ist die Mama? Und wo ist der Bruder?
Da war so ganz liebe Freundlichkeit, und da ist es mir innerlich sehr
kalt geworden, weil ich keine Ahnung hatte, wie sich diese Leute in
diesen sieben Jahren oder auch vorher verhalten hatten. Ich wusste
es nicht, vielleicht waren sie wirklich nett und freundlich und haben
sich gefreut, aber vielleicht haben sie auch nur die Stunde genützt.
Da habe ich mir gedacht: nichts wie weg und nicht mehr zurück.

Wurzeln schlagen im Exil?

Joana Radzyner: Dr. Simon, vielleichterzählen Sie uns, wie weit sie
dieses Exil in England geprägt hat.

Maria Dorothea Simon: Meine Geschichte ist einerseits ähnlich
wie die meiner beiden Vorrednerinnen, andererseits auch wieder
anders. Ich bin nicht direktnach England geflüchtet. Ichbin in Wien
geboren und aufgewachsen, aber weil mein Vater nach dem Ersten
Weltkrieg für die Tschechoslowakei optiert hat, war ich tschechische
Staatsbürgerin. 1937/38 war ich in Prag in einer Fürsorgeschule, einer