neuen Schule für soziale Gesundheitsfürsorge, wo es mir schr gut
gefallen hat. Ich war damals schr begeistert von Prag, ich bin aus dem
vorfaschistischen Österreich gekommen und dort war Demokratie.
Ich war ganzbegeistert, dass man reden konnte, was man wollte, man
konnte den Zeitungen glauben, so etwas hatte ich vorher noch nicht
erlebt. Und während der Ferien 1937/38, war ich nach England zu
entfernten Verwandten meines Vaters eingeladen, die ich noch nicht
gekannt habe. Ich bin also schon im Sommer 1938 nach England
gekommen, in den Ferien. Meine Eltern, dieauch tschechische Pässe
hatten, sind inzwischen nach Pragübersiedelt, mein Vater hat in einem
Unternehmen gearbeitet, das Verwandten gehörte und ist dann im
Jänner 1939 sozusagen auf Geschäftsreise nach England gekommen.
Meine Eltern waren sehr unpolitisch, sie haben überhaupt nicht das
Zeichen an der Wand gesehen, und ich habe meinen Vater überredet,
dass er noch nicht nach Prag zurückfährt, er soll noch abwarten, wie
es politisch weitergeht. Und im März 1939 sind die Nazis nach Prag
gekommen, und mein Vater war also schon in England. Auch ich
war in England ungefähr zwei Monate lang im Sommer bei diesen
Verwandten. Inzwischen war das Münchner Abkommen und die
deutschsprachige Abteilung der Fürsorgeschule wurde aufgelöst, weil
die deutschen Teile der Tschechoslowakei an Deutschland gefallen
sind, das heißt, ich konnte nicht mehr zurück an meine Schule und
bin in England geblieben. Da ich schon zwei Monate bei den Ver¬
wandten gewohnt habe, wollte ich ihnen das nicht länger zumuten
und habe begonnen, einen Job zu suchen. Und weil ich in Österreich
nach sechs Klassen Gymnasium eine Ausbildung zur Kindergartnerin
gemacht habe, habe ich in England den ersten Job in einem „mental
home“ bekommen. Eigentlich durften die weiblichen Flüchtlinge
nur im Haushalt und die Männer in der Landwirtschaft arbeiten,
und wieso ich mich da um einen Job in einem Kinderheim bewerben
konnte, weiß ich nicht.
Dieses „mental home“ war ein ziemlich grässliches Kinderheim,
das ich niemandem wünschen würde. Weil ich dort nicht mehr
bleiben wollte, habe ich einen Job in London angenommen, also
etwaszwischen Kinderfräulein und Hausgchilfin. Schließlich wurde
ich von den tschechischen Exilbehörden als Flüchtling anerkannt,
habe dort eine Sozialarbeiterin kennen gelernt, die sagte, ich solle
die Ausbildung in England fertigmachen, die ich in Pragbegonnen
habe. Ich habe dann einen Job bei Anna Freud bekommen und
im Kinderheim für Flüchtlingskinder ungefähr ein Jahr gearbeitet
und inzwischen mit Hilfe dieser tschechischen Sozialarbeiterin ein
Nadjed Hamdi und Hannah Fischer. Foto: Rudi Handl
Oxford bekommen. Damit hatte ich einen besseren sozialen Status.
Wie ich mit der Ausbildung zur Sozialarbeiterin fertig war, das war
dann schon mitten im Krieg, im Jahr 1942 oder 1943, habe ich mir
gedacht, jetzt muss ich England auch etwas zurückgeben und habe
mich zur englischen Armee gemeldet, zur weiblichen Abteilung der
Armee. Ich habe dort Dienst gemacht, aber nicht mit der Waffe,
sondern habe im Army Education Corps Kurse abgehalten.
Radzyner: Und Sie wollten trotzdem nach Österreich zurück?
Simon: Ich wäre nie zurückgekommen, wenn mein Mann nicht
darauf gedrängt hätte. Ich hatte nämlich inzwischen geheiratet und
mein Mann, auch ein Ex-Österreicher, wollteunbedingt zurück. Aber
ich bin sehr ungern zurückgegangen, ich habe in den sieben Jahren in
England Wurzeln geschlagen; die Engländer waren außerordentlich
liebenswürdig und gastfreundlich und ich hatte dort Freunde fürs Le¬
ben gefunden; abgesehen von den schrecklichen Dingen, diemeinen
Angehörigen dann in Österreich und der Tschechoslowakei passiert
sind, wären es fast die glücklichsten Jahre meines Lebens gewesen.
70 Euro pro Person im Monat
Joana Radzyner: Jetzt gehen wir mit einem großen Sprung zur
jüngsten Exilantin, die in Folge des Bosnien-Krieges nach Österreich
gekommen ist: Nina Kusturica, Filmemacherin. Wie erlebten Sie
den Schock, die Flucht, und die Ankunft in Österreich? Sie waren
mit Ihrer Familie zusammen, was schon — glaube ich — erleichternd
gewesen ist, nicht wahr?
Nina Kusturica: Ich bin mit 17 Jahren mit meiner Familie aus Sa¬
rajevo nach Wien geflüchtet. Wenn so ein großer Schritt im Leben
passiert, weiß man eigentlich nicht, dass das der große Schritt ist,
weil man so von einem Tag zum anderen lebt.
Ich habe erst einige Jahre später, als ich zurück geschaut habe,
erkannt, wasgeschehen ist. Und die Tatsache, dass ich ein Flüchtling
bin und das ein Teil meiner Geschichte ist, habe ich eigentlich erst
gemerkt, wie mich die Welt hier angeschaut hat. Erst als mir andere
gesagt haben: Du bist ein Flüchding, du bist geflüchtet, interessant,
dann erst war ich ein Flüchtling, man denkt ja sonst nicht so. Die
Entscheidung zu flichen, Sarajevo war unter Belagerung, die Stadt
unter Beschuss, ich war 17 und in der glücklichen Pubertät, hat
mein Vater getroffen und gesagt: Darüber wird nicht diskutiert, die
ganze Familie muss weg. Ich habe getobt und wollte nicht weg, weil
da waren meine Freunde und mein Zuhause und meine Zukunft.
Und das war das einzige Mal, dass er gesagt hat, keine Diskussion;