sonst durften wir immer mitbestimmen, plötzlich durften wir das
nicht und sind, mehr oder weniger zufällig, nach Wien, weil meine
Schwester hier studiert hat. Wien war also keine Auswahl, sondern
einfach eine Möglichkeit mit dem Bus zu fahren, den wir gekannt
haben, um die Stadt zu verlassen, und das Ziel war Wien.
Radzyner: Und wie war der Status, wie waren die österreichischen
Behörden, wie haben Sie das erlebt oder Ihre Eltern. ..?
Kusturica: Die Frage ist, was man unter geklärtem Status, versteht.
Denn, so ein Leben, in dem man das Zuhause verliert und alles hinter
sich lässt, besteht ja aus schr vielen Teilen, und ich weiß nicht, ob ich
heute, 18 Jahre später, sagen kann, dass mein Status geklärt ist. In
Österreich gibt es über 200 verschiedene Aufenthaltstitel, das habe
ich bei der Arbeit am letzten Film gelernt, und einige von diesen 200
wurden auch auf uns angewandt. Das große Problem war, dass wir
als bosnische Flüchtlinge nicht arbeiten durften, wir durften uns hier
aufhalten, unser Status und unser Visum wurden alle drei Monate
verlängert, die Situation in Bosnien wurde genau angeschaut, und
wir bekamen umgerechnet 70 Euro pro Person im Monat für alles,
für Wohnen und Essen, aber auch erst einige Monate später von
der Stadt Wien. Es wurde uns aber nicht die Möglichkeit gegeben,
offiziell um Asyl anzusuchen, und die Rechtezu bekommen, die man
als anerkannter Fliichtling hat, das heifst arbeiten zu diirfen, reisen zu
dürfen, einen Reisepass haben zu dürfen; wir waren also Jahre lang
in einer Grauzone, in der wir natürlich doch gearbeitet haben, weil
man ja mit 70 Euro im Monat nicht leben kann. Es war also vom
System her klar, dass man uns nicht vollständig empfängt und sagt:
Ihr seid da, wir akzeptieren das, das sind eure Möglichkeiten und
Rechte, sondern wir haben uns von Jahr zu Jahr durchgeschlagen.
Radzyner: Und wie war das mit der Sprache?
Kusturica: Mit der deutschen Sprache? Wir haben gelernt, wirhatten
ja auch Zeit, weil wir auch nicht full-time arbeiten konnten, haben
Wörterbücher gehabt, ganz viel Radio gehört und ferngeschaut. Zu
dieser Zeit gab es keine Möglichkeit, Kurse zu besuchen, es wurde
uns nichts in diese Richtung angeboten, und wir hatten auch kei¬
ne finanziellen Möglichkeiten, um in einen Kurs zu investieren,
sondern haben einfach so Deutsch gelernt und haben die Sprache
wunderschön gefunden.
Radzyner: War das nicht ein bitteres Gefühl, wenn Sie daran denken,
wie Sie damals behandelt wurden? In Ihren Filmen thematisieren Sie
diese Problematik von Flucht und Exil, aber Sie versuchen es ja auch
fiir sich selbst zu verarbeiten.
Kusturica: Das ist ein Teil meiner Lebensgeschichte geworden,
teilweise durch meine Entscheidung, aber teilweise kommen auch
Menschen von außen und sagen: Sie haben einen Film über Frauen,
junge Mädchen produziert, die im Zweiten Weltkriegnach New York
geflüchtet sind, das ist also ein Thema, das in meinem Leben schr
präsent ist und bei dem ich mir denke, dass viel zu wenig darüber
gesprochen wird, was es für Menschen bedeutet, dasZuhause verlieren
zu müssen. Das gibt esin allen Generationen. Und deswegen versuche
ich das Thema Flucht in meiner Arbeitein bisschen zu demystifizieren,
weil das auch sehr oft für politische Zwecke missbraucht wird, finde
ich, um Menschen Angst zu machen, daher versuche ich über das
Thema Flucht so zu sprechen, als wäre das ein Teil von jedem Leben.
Radzyner: Bei Flucht gibt es manchmal auch die Möglichkeit der
Rückkehr. Haben sie jemals daran gedacht, zurückzuchen?
Kusturica: Nein, ich habe nicht daran gedacht. Der Krieg hat viele
Jahre gedauert und es war auch schr lange unklar, wie die Situation
für uns sein wird; ich hatte hier gerade das Studium begonnen,
Freunde gefunden, das wäre eine zweite Flucht in meinem Leben
gewesen. Ich kann mir vorstellen, woanders hinzugehen, aus freier
Entscheidung, aber nicht zurück, weil ich einmal dort gelebt habe,
das spielt derzeit keine Rolle mehr für mich, weil mein Leben, Gott
sei Dank, weitergeht.
Damals war Kreisky und es war leichter
Joana Radzyner: Frau Cortés, bei Ihnen war das, glaube ich, ein
bisschen schwieriger. Sie sind 1976, einige Jahre nach dem Putsch in
Chile nach Österreich gekommen, also auch nicht freiwillig.
Rosa Emilia Cortes: Es war schwierig, aber damals war Kreisky
und es war leichter als heute. Wir haben den Status als Flüchtling
schnellbekommen. Wir wurden auch nicht so behandelt wie heute,
wir wurden gleichgestellt, im Sinne von Arbeiten, in die gleiche
Schule gehen usw. Die Probleme waren viel subtiler. Zum Beispiel
wurden sehr viele Kinder von uns in Sonderschulen gesteckt, weil
sie die Sprache nicht so schnell lernen konnten, es waren auch sehr
viele Bauernkinder, die auch in der eigenen Sprache Schwierigkei¬
ten hatten, es waren Arbeiter, die unterdrückt wurden, oder auch
umgebracht worden waren, sehr viele, die nicht die Möglichkeiten
gehabt hatten, gute Schulen zu besuchen.
Radzyner: Warum kamen Sie ausgerechnet nach Wien?
Cortes: Chile hatte zehn Millionen Einwohner, als 1973 der Putsch
war, und 1976, als wir Nüchten mussten, war eine Million Personen
schon im Ausland. Viele Länder haben sich geweigert, mehrere
Chilenen oder Lateinamerikaner zu nehmen, denn diekamen nicht
nuraus Chile, auch aus Argentinien, Perü, Uruguay. Die Diktaturen
haben auch zusammengearbeitet, Leute, die in die Nachbarländer
geflüchtet sind, wurden auch dort umgebracht, es war also schr
gefährlich. Österreich war, dank einer Universitätskollegin meines
Mannes, damals das einzige Land, das uns ein Visum erteilt hat.
Radzyner: Und wenn Sie daran denken, zurückzukehren, würden
Sie das noch tun, nach so vielen Jahren hier in Österreich?
Cortes: Ich kam hierher mit 23, mittlerweile bin ich 58, bin Gro߬
mutter, richtige Großmutter, und ich möchte da sein, wo meine
Familie und meine Enkel sind, außerdem sind es zwei Mädchen,
für mich immer noch Mädchen. Wenn ich zurückgehe, werde ich
vielleicht meinen Bruder besuchen, mittlerweile ist nur mehr mein
Bruder am Leben, meine Eltern sind schon gestorben. Er will na¬
türlich, dass ich zurückkehre, wir sind ja nur zwei Geschwister, aber
dort leben könnte ich nicht mehr.
Radzyner: Wie schnell ist es bei Ihnen gegangen, zu sagen: OK, ich
habe dort gelebt, jetzt lebe ich hier und vielleicht lebe ich einmal
noch wo anders. Wie lange hat es bei Ihnen gedauert? Oder haben
Sie sich die ganze Zeit gedacht: Wenn das vorbei ist, irgendwann
einmal... ich will zurück!
Cortés: Wir haben sehr lange, nicht nur ich, sondern viele, sehr lange
„die Tasche an die Tür gelehnt“ und wollten zurück, und es sind sehr
viele Chilenen, die zurückgekehrtsind, sehr viele, auch Uruguayaner
und Argentinier, es sind sehr wenige geblieben.
Radzyner: Sie haben sich dann selber engagiert fiir andere, fiir spatere
Flüchtlinge und Emigranten. Gibt es da eine Solidarität, dass man
sich verpflichtet fühlt, zu helfen, wenn man es überstanden hat?
Cortés: Ich habe sehr schnell Deutsch gelernt, weil ich als 23-Jährige
gekommen bin; dieälteren Generationen haben nie Deutsch gelernt
oder schrschwer. Und da habe ich angefangen zu übersetzen, weilsich
heraus gestellt hat, es ist notwendig, weil wir wirklich nicht wussten,
welche unsere Pflichten und Rechte in der neuen Heimat waren,
und so haben wir die erste Beratungsstelle für Flüchtlinge gegründet,
1985, LEFÖ, „Lateinamerikanische Fxilierte Frauen im Exil“, heute
heißt es „Lateinamerikanische Emigrierte Frauen Österreichs“, weil