Seite, warten mußten, von der Unterlassung, ihnen eine rasche
Rückkehr zu ermöglichen und den geraubten Besitz freiwillig
zurückzugeben, ganz zu schweigen.
Wäre die Vertreibung der Juden nicht geschehen oder hätte
man sich gleich nach 1945 darauf besonnen, die Vertriebenen
um Verzeihung zu bitten und sie zur Rückkehr zu bewegen, dann
würden die heute als Exilautoren Bezeichneten selbstverständli¬
cher Ieil des Mainstreams der österreichischen Literatur sein, sie
wären bekannt, mit Preisen geehrt, im Literaturkanon verankert,
um ihre Meinung gefragt, im kollegialen Austausch mit jüngeren
Autorengenerationen. Wenn es so gewesen wäre, dann hätten wir
bereits 67 Jahre lang in einem anderen, freieren, weltoffeneren
Österreich gelebt, auf das wir stolz sein könnten.
So aber sind wir trotzdem dankbar, daß es einige Menschen
gibt, die seit vielen Jahrzehnten Unrecht und Versäumnis ständig
im Blick hatten und dagegen ankämpften — Menschen wie das
Team der Theodor Kramer Gesellschaft, das ohne Anzeichen von
Miidigkeit von Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser geleitet
wird, aber auch von Exilforschern und —forscherinnen wie Ursula
Seeber. Und wir freuen uns, heute der diesjährigen Preisträgerin
des Theodor Kramer Preises, Eva Kollisch, gratulieren zu dürfen.
Wie sie in Ihrem 2007 auf Englisch und 2010 auf Deutsch er¬
schienenen autobiographischen Roman Der Boden unter meinen
Füßen beschreibt, stammt Eva Kollisch aus einem bürgerlichen
Elternhaus in Baden bei Wien. Ihr Vater war der Architekt
Otto Kollisch, dem kürzlich eine Retrospektive seiner Bauten
in Wien, unter anderen an der Mariahilfer Straße, gewidmet
war. Auch das ist eine viel zu späte, posthume Anerkennung,
aus der aber immerhin noch seine Kinder, Enkel und Urenkel
ein wenig Genugtuung beziehen können. Evas Mutter war eine
begabte Lyrikerin, deren Gedichte zwar auch nach dem Krieg auf
Deutsch erschienen sind, jedoch das Schicksal fast aller Literatur
der Emigranten erlitten, nämlich von der Literaturszene und den
Lesern in diesem Land nicht wirklich wahrgenommen zu werden.
In ihrem Buch beschreibt Eva Kollisch ihre Kindheit und ihre
Schulzeit, die antisemitischen gewalttätigen Übergriffe auf dem
Schulweg, die Ausgrenzung durch Mitschüler und Lehrer, die
Gehässigkeiten und Vorurteile ihrer Kindermädchen, die sich vor
allem gegen die Eltern richteten aber vor den Kindern, d.h. vor
Eva und ihren beiden Brüdern, ausgesprochen und ausgetragen
wurden. Sie beschreibt diese zwar längst schon vorhandene aber
sich immer offener zeigende Feindseligkeit gegenüber Juden, die
die Erwachsenen nicht wahrhaben wollten und die Kinder spürten,
aber nicht sofort einordnen konnten, bis der Anschluß Österreichs
an Hitlerdeutschland schließlich den Haß und das Ressentiment
offen zum Ausbruch brachte. So wie der Roman angelegt ist, mit
verschiedenen Erzählformen und Erzählperspektiven, persönlichen
Essays und berührenden Porträts, ist das Buch viel mehr als eine
Autobiographie. Es gelingt ihm, das Exemplarische an diesen
Erfahrungen von Ausgrenzung, Fremdsein und Entwurzelung
darzustellen, oder in Eva Kollisch‘ Worten, die geistige Haltung
des Aufsenseiters, die ich oft als mein wahres Selbst empfunden habe
zur Sprache zu bringen. Die Episoden, die sie erzahlt, sind nicht
streng chronologisch, manchmal rückblickend in der Ich-Form,
aus der Sicht des Kindes, das sich mit widersprechenden Gefühlen
und Loyalitäten quält, manchmal in der dritten Person. Aber
immer ist sie auf kompromißlose Fairneß bedacht, nicht nur dem
eigenen Alter Ego sondern auch den Menschen gegenüber, die
ihr allen Grund zu Ablehnung und Haß gegeben hätten. 1939
konnten Eva und ihre Brüder mit einem Kindertransport nach
England entkommen und schließlich gelang auch ihren Eltern
in letzter Stunde die Flucht. Die Familie wurde 1940 in New
York wieder vereint.
Ganz auf die Menschen ausgerichtet, deren Porträts sie liebevoll
und mit der ihr eigenen großen Begabung der Charakterisierung
zeichnet, ergibt das Buch ein eindringliches Bild der dreißiger
Jahre und jener Monate zwischen Anschluß und Flucht, in der
die jüdische Bevölkerung aus allen Zusammenhängen gerissen in
einen chaotischen, bedrohlichen Alltag gestürzt wurde.
Diese Erfahrung wird für Eva Kollisch zur Grunderfahrung
ihres Lebens — der Verlust der Geborgenheit, der Verlust der Le¬
bensweise, des Ortes, der Zusammenhänge, die Heimat bedeuten,
der Verlust der Sprache. Und das Wissen, dort unerwünscht zu
sein, wo man zu Hause ist. Das ist der schwankende Boden unter
ihren Füßen: die erste Heimat immer unter dem Neigungswinkel
des Verlusts betrachten zu müssen; eine Heimat, die ihre Eltern
sie lieben lehrten, die Muttersprache als sicherer Besitz, ein da¬
mals noch intaktes, reiches kulturelles Erbe, und daß einem alles
grundlos von heute auf morgen genommen werden kann und
niemand schämt sich dafür. Es ist eine Erfahrung, die nie bloß
der Vergangenheit angehört, egal, wie viele Jahrzehnte vergangen
sind, und es kann geschehen, wie Eva Kollisch schreibt, wenn ich
mein „Vaterland“ besuche, daf der Boden unter meinen Füßen zu
schwanken beginnt. Dieser Roman ist jedoch keine Abrechnung
und keine Anklage, sondern, wie sie im Vorwort schreibt, der
Versuch, die Narben näher zu betrachten, die die Erfahrung des
Antisemitismus und die Nachwirkungen der Vertreibung hinter¬
lassen haben. Man wird von Anfang an in einen leidenschaftlichen,
der Wahrhaftigkeit verpflichteten Dialog hineingezogen, der eine
kompromißlos aufrichtige Antwort fordert. Der persönliche, auf
ein Gegenüber gerichtete Ton vermittelt die Wärme einer Erzähl¬
stimme, die nicht behauptet, sondern erzählend verstehen will.
Aber mit der gelungenen Flucht endet Leben und Werk von Eva
Kollisch bei weitem nicht, und das ist das Iröstliche. Sie beschreibt
die schwierigen, für die Eltern demütigenden Anfänge des neuen
Lebens der Familie Kollisch, die anfängliche Orientierungslo¬
sigkeit, die schwer auch auf die Kinder fällt, weil sie sich für das
neue Land, die neue Sprache entscheiden müssen, gewissermaßen
den Standort wechseln müssen, um von ihm aus das Leben ganz
neu zu begreifen. Die Eltern, vor allem die Mutter, findet in den
Emigrantenzirkeln New Yorks eine Art Ersatzheimat. Eva Kollisch
widmet in ihrem Buch der Freundin der Mutter, Mimi Großberg
ein berührendes Porträt. Auch die heranwachsende Eva sucht
nach neuer Zugehörigkeit und findet sie bei den Trotzkisten.
Diesem Abschnitt in ihrem Leben, den sie mit der gewohnten
Kompromißlosigkeit und Ernsthaftigkeit angeht, beschreibt sie
im ersten Roman, den sie geschrieben hat: Mädchen in Bewegung
(Picus Verlag 2003). Im Vorwort zu Der Boden unter meinen Füßen
schreibt sie: Die „Bewegung“ gab mir eine ideologische Heimat in
meiner Heimatlosigkeit. Politisches Engagement bedeutete für sie
nicht bloß Gedankenaustausch und Treffen mit Gleichgesinnten.
Als Fabrikarbeiterin wollte sie das Leben derer teilen, für die sie
sich einsetzte. Als unabhängige junge Frau, der Eigenständigkeit
im Denken und die Freiheit, nach ihren Erkenntnissen zu handeln,
wichtig waren, hielt es sie aber nicht auf Dauer in diesem selbst
gewählten Leben. Politisch leidenschaftlich engagiert, fähig zur
Empathie mit Benachteiligten und tatkräftig, wenn sie soziale
Ungerechtigkeit sieht, das ist sie geblieben.