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Manchmal, wenn ich Eva Episoden aus ihrem reichen, abenteuerli¬
chen Leben erzählen höre, frage ich mich, ob sie diese Erfahrungen,
die mir so wunderbar mutig und exotisch erscheinen, auch gemacht
hätte, wenn sie in Österreich hätte bleiben können. Eine Weile
führte sie in Greenwich Village, New York, ein Wiener Café auf
kooperativer Basis mit einigen Freunden, einige Jahre lebte sie
in New Mexico, wo ihr Sohn zur Welt kam, sie teilte ein Stück
Land mit einigen pazifistischen Frauen in Upstate New York,
studierte Germanistik und Komparatistik und unterrichtete viele
Jahrzehnte am Sarah Lawrence College, wo sie meine Vorgesetzte
und Kollegin war. Alle faszinierenden Menschen, die sie über die
Jahrzehnte liebevoll gesammelt hat wie Schätze, über die sie sich
Gedanken macht und die sie umgeben wie ein verläßliches Netz
aus Wahlverwandten und Familienmitgliedern, die Neugier und
Offenheit für alles noch Unentdeckte bis ins Alter, all das gehört
zu ihrem Leben. Ist es vermessen, zu dem Schluß zu kommen,
daß sie aus Verlust und frühem Trauma ihrer Jugend dennoch
mehr Kapital geschlagen hat als viele ihrer Zeitgenossen, die nie
die Heimat verlassen mußten?

Eva Kollisch hat ihr ganzes Leben lang geschrieben und tut es
immer noch, regelmäßig und mit der Klarheit und Stilsicherheit,
die wir aus ihren Büchern kennen. Ich freue mich jedesmal, wenn
sie mich an diesen wunderbaren Skizzen, Porträts und Erzählungen
Anteil nehmen läßt und hoffe, daß dieses inzwischen zu einem

Vladimir Vertlib

Gedanken zum Werk der Schriftstellerin Eva Kollisch

„In letzter Zeit habe ich begonnen zu verstehen, wie gewisse Er¬
innerungen uns helfen können, unsere Realität zu bewältigen“,
schreibt Eva Kollisch in ihrem autobiographischen Buch Der
Boden unter meinen Füßen. Nämlich: „Klare Grenzen zu setzen
zwischen dem, wer wir waren (oder glaubten zu sein) und dem,
wer die anderen waren. Bis dann, wenn wir Glück haben |[...],
diese Konstrukte sich als nicht mehr hilfreich erweisen und durch
eine Vision der Geschichte ersetzt werden, die das Selbst und
den anderen umfasst.“ Dieser Satz gibt nicht nur die mensch¬
liche Perspektive, sondern auch die Schreibhaltung der Autorin
Eva Kollisch schr gut wider: Ihr ehrlicher Zugang, ihr kritischer,
stets analysierender, eigene und fremde Ansichten, Wertungen
und Empfindungen hinterfragender und dennoch empathischer
Blick auf sich selbst und die Welt lässt Vereinfachungen nicht
zu. Gerade in einem historischen Kontext greifen die simplen
Zuordnungen von Rollen nicht mehr, wenn man versucht, sich
selbst und anderen gerecht zu werden.

Eva Kollisch wurde am 17. August 1925 als Tochter der Schrift¬
stellerin Margarete Kollisch und des Architekten Otto Kollisch
in Wien geboren. Ihre Kindheit und frühe Jugend verbrachte sie
mit ihren Eltern in Baden. Nach dem „Anschluss“ Österreichs
an Nazideutschland musste die Familie Kollisch aufgrund ihrer
jüdischen Herkunft aus ihrer Heimat flüchten. Eva und ihre
beiden Brüder, Peter und Stefan, kamen im Juli 1939 mit einem
„Kindertransport“ nach England. Den Eltern gelang — mit vielen
Schwierigkeiten — ebenfalls die Ausreise. 1940 war die Familie in

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großen Lebensroman angewachsene Werk den Lesern in beiden
Sprachen zugänglich gemacht wird. Zunächst wohl auf Englisch,
denn das ist die Sprache, in der Eva Kollisch inzwischen schreibt,
dann aber übersetzt von Astrid Berger, die ihren letzten Roman
so virtuos ins Deutsche übertragen hat, daß man gar nicht auf
die Idee käme, daß es eine Übersetzung ist.

Es ist Eva Kollisch nicht leicht gefallen, den Schmerz über
Zurückweisung und Vertreibung, den sie als Kind erfahren hat,
zu überbrücken. Während ihre Mutter auch in der Emigrati¬
on an der Muttersprache festhielt und weiterhin auf Deutsch
schrieb, mußte Eva sich zunächst von der Sprache abwenden,
um sie später, im Studium gewissermaßen auf eine neue Weise
für sich in Anspruch zu nehmen und die deutschsprachige Lite¬
ratur mit der Sensibilität der wiedergewonnen Muttersprache zu
unterrichten. Ihre ersten Besuche in Wien fielen ihr nicht leicht,
auch diese Erfahrungen beschreibt sie in ihrem autobiographi¬
schen Roman, und sie schreibt auch von der Freude darüber, daß
ehemalige Mitschülerinnen Kontakt mit ihr suchten und neue
Freundschaften daraus entstanden, in einem Österreich, dem sie
sich mit vorsichtigem Vertrauensvorschuß über die Jahre wieder
annähern konnte. Es ist ein zögerndes, wachsames Ja zu dem
Land, das sie und ihre Familie vertrieben hat, ein Angebot, das
keinen Augenblick vergißt, was geschehen ist und das auf dem
Vertrauen zu einzelnen Menschen beruht.

den USA, in Staten Island, New York, wieder vereint. Von 1941
bis 1946 war Eva Kollisch Mitglied der trotzkistischen Workers
Party, eine Erfahrung, die sie später in ihrem Roman Girl in Mo¬
vement, der 2000 im englischen Original und 2003 als Mädchen
in Bewegung in deutscher Übersetzung erschien, verarbeitete.
Kollisch studierte Germanistik und Literaturwissenschaft am
Brooklyn College und an der Columbia University, eröffnete 1950
gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Maler Gert Berliner, und
einigen anderen, das gemeinschaftlich geführte Caf£ Rienzi in
Greenwich Village, das bald zu einem In-Lokal für Künstler und
Intellektuelle in New York wurde. Später wurde Eva Kollisch
Professorin am renommierten Sarah Lawrence College, wo sie
jahrzehntelang englische, deutsche und vergleichende Literaturwis¬
senschaft unterrichtete und sich schwerpunktmäßig mit Literatur
von Frauen und mit Frauenforschung beschäftigte. Vor kurzem
erhielt die Autorin den Theodor Kramer Preis.

Eva Kollisch war zweimal verheiratet. Ihr Sohn Uri Berliner ist
Journalist. Heute lebt die politisch aktive Feministin, Pazifistin und
Autorin mit ihrer Lebensgefährtin, der amerikanischen Lyrikerin
Naomi Replansky, weiterhin in New York.

2007 erschien The Ground Under My Feet, das schon erwähnte
autobiographische Buch von Eva Kollisch, das 2010 im Czernin
Verlag unter dem Titel Der Boden unter meinen Füßen auf Deutsch
publiziert wurde. Darin geht es in einem wesentlichen Maße um
Fremdheit und Außenseitertum: Erfahrungen, die für die Autorin
vor allem in ihrer Jugend prägend gewesen waren. Was sie über