Fallschirm mit Waffen versorgt wurden, die kommunistische
FTP-MOl jedoch nur rudimentär ausgerüstet blieb, sollte Michel
Herr Waffen abzweigen und der MOI zukommen lassen. Michel
Herrs (Jacques Mercier) rechte Hand hiebei war der junge Jorge
Semprün (Gerard). Beide wurden in der Region von Yonne, im
nördlichen Burgund, aktiv.
In der Region Yonne ist Michel Herr nicht nur für etliche
Anschläge auf Züge und militärische Einrichtungen verantwort¬
lich, er wird auch Spezialist für die Fallschirmlieferungen aus
England. Im Oktober 1943 wird die ganze Gruppe schließlich
‚aufgerollt‘, es hatte einen Maulwurf gegeben. Jorge Semprün
wird ins KZ Buchenwald deportiert, Michel Herr kann seine
Wache überwältigen und fliehen. Einige Monate später wird er
in Paris von der französischen Polizei verhaftet und neun Monate
lang festgehalten. Er überlebt, weil er unter falschem Namen
registriert ist und die Polizei somit nicht wissen kann, wer ihr
da ins Netz gegangen ist.
Wieder auf freiem Fuß, übernimmt er die Leitung einer FTP¬
Gruppe in der Gegend von Nancy. Er ist aktiv an der Befreiung
dieser Stadt beteiligt. Danach wird er als Capitaine in die franzö¬
sische Armee aufgenommen und rückt mit dieser nach Deutsch¬
land vor. Nach Kriegsende ist er zuerst in Deutschland, dann in
Österreich, in Innsbruck, stationiert, gehört der französischen
Zivilregierung zuerst in Deutschland, dann in Österreich an,
kümmert sich um die Jugend, lernt Maria Kaiser kennen.
Und sie sollte nicht die Einzige sein, die sich wundert, dass
Michel Herr sich nicht von seiner Waffe trennen kann. Da ist
zum Beispiel Carlos, der Bruder Jorge Semprüns. Der berichtet
von Besuchen Michel Herrs bei seiner Familie, Jahre nach dem
Krieg, und davon, dass der Gast immer eine geladene Waffe bei
sich hatte. Carlos erwähnt auch, dass Michel Herr in Maribel
verliebt gewesen sei, sich jedoch dabei äußerst ungeschickt an¬
gestellt haben dürfte.?
Bald nach dem Weltkrieg zieht Michel Herr in neue Kriege, dies¬
mal nicht in Europa, sondern in den fernen Kolonien Frankreichs.
Zuerst einmal geht es nach Indochina. Als Kommunist, der nur
deshalb in der Armee blieb, um diese nicht den Rechten zu über¬
lassen, muss er plötzlich einen Krieg führen, den er nicht führen
kann und will. Er ist jedoch nicht der einzige Offizier aus der
Resistance, der plötzlich in einem Kolonialkrieg, noch dazu gegen
andere Kommunisten, kämpfen soll, und nicht der einzige Soldat,
der im Auftrag der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF)
am Krieg teilnimmt, auch vielleicht um den vietnamesischen
Gegnern Informationen zukommen zu lassen. Jedenfalls vermuten
dies Herrs Vorgesetzte. Als unzuverlässig eingestuft, werden er und
etliche andere zurück nach Frankreich geschickt und isoliert. Die
in Versailles stationierte Abteilung hieß dementsprechend: Depöt
central des isol&s — Zentrallager der Isolierten.
Nach einiger Zeit, auch Mangels an Beweisen, kehrt Herr in
den aktiven Dienst zurück und kommt nach Algerien, wo der
nächste Krieg mit aller Brutalität zu toben begonnen hat. Michel
Herr spricht sich offen gegen die Folter aus. Er ist nicht der einzige
Offizier, der dies tat; der berühmteste war wohl Jacques Päris de
Bollardiere, der höchst dekorierte und zugleich jüngste General
der Rösistance und Armee, der in der in Algerien angewandten
Form der Kriegführung einen Verrat an den Werten der Republik
sah. 1957 musste der General wegen seiner öffentlichen Kritik
für drei Monate in Militärhaft. Der General verließ die Armee
und organisierte in der Folge Jahrzehnte hindurch Popkonzerte.
Auch Michel Herr wird innerhalb der Armee wieder isoliert,
bis er sie schließlich 1963, immer noch im Rang eines Haupt¬
manns, endlich verlasst. Ab 1965 arbeitet er als Geschichtslehrer
fiir die Oberstufe, 1984 geht er in Pension. Am 16. April 2006
stirbt Michel Herr in Montpellier. Bis zu seinem Tod war er
aktives Mitglied der ARORY (Association pour la Recherche sur
P Occupation et la Résistance dans l’Yonne), eines Vereins, der,
wie das Dokumentationsarchiv in Wien, nicht nur Forschung zu
Widerstand und Nazibesatzung, und zwar speziell fiir die Region
Yonne, betreibt, sondern auch Besuche von ZeitzeugInnen an
Schulen organisiert.
Vianney Harpet ist es zu verdanken, dass man im Internet recht
viele Informationen zu Michel Herr finden kann, denn er betreibt
die Internetseite http://harpet.free.fr, auf der er seit Jahren alle zum
Thema passenden Dokumente, die er finden kann, veröffentlicht.
Dabei geht es auch darum, die Erinnerung an seinen Onkel Julien
Bon wach zu halten, begründet Vianney Harpet, als er mir am
Telefon über seine Recherchen zur Geschichte der Resistance,
die er nun schon seit bald 40 Jahren betreibt und der er auch
die langjährige Freundschaft mit Michel Herr zu verdanken hat,
erzählt. Sein Onkel Julien war in der Resistance ein enger Mit¬
streiter von Michel Herr und Jorge Semprün gewesen und am
13. März 1944, gerade einmal 22 Jahre alt, bei einem Gefecht
mit der SS ums Leben gekommen. Jorge Semprün beschreibt
in „Schreiben oder Leben“, wie er gemeinsam mit Julien einen
deutschen Soldaten erschießt, der La Paloma singt, beschreibt,
wie er als exilierter Spanier beim Hören dieses Liedes plötzlich
Skrupel bekommt, abzudrücken, beschreibt, wie er dann doch
abdrückt und dann selbst zu Boden sinkt,
das Gesicht im frischen Gras, wütend hämmere ich mit der Faust
auf den flachen Felsen, der uns schiitate.
Scheifse, Scheifse, Scheifse!
Ich schreie immer lauter, Julien bekommt es mit der Angst.
Er schüttelt mich, brüllt, daß jetzt nicht der Moment sei, einen
Nervenanfall zu kriegen: wir müssen verduften. Das Motorrad, das
Maschinengewehr des Deutschen an uns nehmen und verduften.
Er hat recht, es gibt nichts anderes zu tun."
1 Mir wurde Mut gemacht. Geboren 1916 erinnere ich mich. Literarischer
Monolog einer Gemeinderatin. Innsbruck: Kulturspur Verlag Irmgard Plotz
2010. — Vgl. auch Konstantin Kaiser: Abschied von Maria Kaiser. In: ZW
Nr. 3/2011, 22.
2 Dieses und die folgenden Zitate aus M. Kaisers Erinnerungen finden sich
im zitierten Buch auf den Seiten 141-151.
3 Dinah Lepuschitz: Ein österreichisches Pontigny? Französische Teilnehmer¬
Innen am Forum Alpbach in: "Thomas Angerer, Jacques Le Rider (Hg.): Ein
Frühling, dem kein Sommer folgte. Französisch-österreischische Kultur¬
transfers seit 1945. Wien 1999, 286.
4 Marc Chervel: Michel Herr, normalien, officier, communiste. In: Cahiers
Jean Jaures n° 140, 1996, S.109f.
5 Ingrid Strobl: „Fräulein, warum sprechen Sie so gut Deutsch?“ Öster¬
reichische jüdische Exilantinnen in der Resistance. In: Siglinde Bolbecher
(Hg.): Frauen im Exil. Klagenfurt/Celovec 2007, 123.
6 Ebenda, 122.
7 Jorge Semprün: Die große Reise. Frankfurt/M. 1981, 30f.
8 Jorge Semprün: Schreiben oder Leben. Frankfurt/M. 1994, 162.
9 Carlos Semprün Maura: Amigos, amores y conflictos de posguerra. www.
libertaddigital.com/opinion/carlos-semprun-maura/amigos-amores-y-con¬
flictos-de-posguerra-5496 (Zugriff 1. Juni 2012).
10 Jorge Semprün: Schreiben oder Leben. Frankfurt/M. 1995, 48.