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Manfred Wieninger

Fahrräder werden relativ häufig vergessen. Egal ob schnieke City¬
Bikes oder rostige Drahtesel. Der große Lagerraum des St. Pöltner
Fundamtes, der sich in einer schon seit Jahren leerstehenden
Holz- und Bastelwarenhandlung am Rande des Karmeliterhofes
befindet, ist jedenfalls voll davon. Etwas verwundert bin ich al¬
lerdings, dort auch ein nagelneues, weißes Surfboard vorzufinden
und eine große Pappkarton-Schachtel mit circa 150 Propagandavi¬
deos von Jörg Haider aus einem längst geschlagenen Wahlkampf.
Noch mehr erstaunt es mich, dass auch ein roter Kinderwagen
eingelagert ist — bis sich der rechtmäßige Besitzer meldet. Wenn
das nicht innerhalb eines Jahres der Fall ist, hat der Finder An¬
spruch auf seinen Fund. Wenn der allerdings den Krempel auch
nicht haben will, werden die Fundstücke versteigert, verschenkt
oder einfach weggeschmissen. Ich wäre gespannt, ob sich jemand
für die Haider-Videos findet oder ob sie letztendlich im Müll
landen, wo sie seit ch und je hingehört hätten. Wie kann man,
denke ich, bloß so ein Riesentrumm wie ein Surfbrett verlieren
oder gar einen Kinderwagen?

Auch Katzen und Hunde werden vergessen. Tiere sind allerdings
keine Fundsachen. Wenn einem ein Tier zugelaufen ist, hat man
sich nicht an das Fundamt, sondern an das Tierheim zu wenden.
In der Regel werden nur Funde mit einem Mindestwert von zehn
Euro vom Fundamt bearbeitet. Aufder Homepage des St. Pöltner
Fundamtes heißt es lebensklug: „Es gibt auch viele Anfragen von
Leuten, die etwas verloren haben: Schmuck, neuwertige Handys,
Fotoapparate, Laptops, MP3 Player und Brillen finden leider
nicht immer den Weg ins Fundamt.“ Der ärarische Lagerraum
ist schlecht, das heißt gar nicht belüftet, und die Beleuchtung,
eine einzige, in unregelmäßigen Abständen flackernde Neonröhre
verdient die Bezeichnung Lichtquelle gar nicht.

Unter solchen Umständen bin ich auf den Meldezettel von
Leopold Karner gestoßen, denn die Ansammlung von sperrigen
Fundsachen, die im ehemaligen Lagerraum der Firma Holz¬
Wallner ihrer Rückgabe, Versteigerung oder Beseitigung harten,
hat mich weit weniger interessiert als eine ganze Reihe von alten,
gusseisernen Karteikästen, die dort ebenfalls gelagert werden. Im
März 2002 wurde das Meldewesen in Städten mit Bundespoli¬
zeibehörden vom Bund an die jeweiligen Kommunen übertragen
— nur ein winzigkleiner Teil des x-ten Sparpaketes des damaligen
Finanzministers Grasser. Die Stadt St. Pölten erbte nolens volens
nicht nur diese neue Aufgabe, die ihr finanziell nicht abgegolten
wurde und wird, sondern auch das historische Meldearchiv der
Bundespolizeidirektion St. Pölten. Mitüberstellt wurden auch die
alten, ausgeleierten Karteikästen. Dieses Archiv besteht meiner
groben Schätzung nach aus circa 150.000 Meldezetteln, die aus
dem Zeitraum der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts bis in die
1960er Jahre stammen - bis dato völlig unbearbeitetes Material,
ein Objekt der Begierde für jeden (Lokal-)Historiker, aus meiner
Sicht jedenfalls unendlich faszinierender als De Rosa-Rennräder,
teure Surfbretter und politische Botschaften.

Laut seinem Meldezettel wurde Leopold Karner am 21. März 1896
in Rossatzbach im Bezirk Krems geboren. Als seine „Heimatsge¬
meinde“ ist Krummnußbaum im Bezirk Melk angegeben. Als Be¬
rufist „H.A.“, also Hilfsarbeiter angegeben. Als Staatsangehörigkeit

ist Österreich, als Familienstand ledig und als Religion „r.k.“,
also römisch-katholisch vermerkt. Ab 11. Mai 1938 ist Leopold
Karner in der Jean-Paul-Straße in St. Pölten gemeldet, die in
Klammer hinzugefügte Kurzbezeichnung der Liegenschaft ist
unleserlich. Unter der Rubrik „Zugezogen woher“ ist in akkurater
Handschrift „Wanderschaft“ eingetragen. Mit Datum 21. Juli
1938 wird die Abmeldung nach „Dachau“ amtlich vermerkt. In
einer Datenbank des Dokumentationsarchives findet sich noch
die Eintragung: „Gestorben 10. Januar 1940 in Mauthausen.“
Der DÖW-Sachbearbeiter hat noch hinzugefügt: „eingeliefert als
„Arbeitsscheuer“ zur Zwangsarbeit. Zu dieser Zeit wurde im KZ
Mauthausen noch „Vernichtung durch Arbeit“ betrieben - erst
der für die Nazi ungünstige Kriegsverlauf erforderte den Einsatz
von KZ-Häftlingen für produktive Zwecke. Das ist alles, was von
Leopold Karner geblieben ist, das ist alles, was wir von Leopold
Karner wissen.

Es ist wohl kein Zufall, dass ein armseliger Tagelöhner und Va¬
gabund, der von den Nazis durch mindestens zwei KZs geschleift
worden ist, bis er zu Tode geschunden war, 1938 in der Jean¬
Paul-Straße Obdach gefunden hat. Diese erst 1933 geschaffene
Stichstraße lag und liegt am nördlichen Ende der sogenannten
Eisberg-Siedlung nördlich des Kaiserwaldes und westlich des
Hauptbahnhofes. Die Siedlung - heute eine der besseren Wohn¬
lagen der Landeshauptstadt mit vielen neuen Einfamilienhäusern
wie aus dem Elk-Katalog — wurde in den dreißiger Jahren nicht
zu Unrecht „Bretteldorf“ genannt und war ein weitgehend ‚wild‘,
also konsenslos errichtetes Notwohnquartier von Arbeitslosen,
Ausgesteuerten und Pauperisierten auf dem lehmig-sumpfigen
Gelände einer aufgelassenen Ziegelei. Der alte Riedname der
Gegend lautete Kaltenbrunn. Seit 1886 hatte hier eine große
Ziegelbrennerei bestanden, die zahlreiche Ziegelteiche hinterlassen
hatte. In den Wintern sägten St. Pöltner Gastwirte, aber auch
Fleischhauer und Lebensmittelhändler große Eisplatten aus den
zugefrorenen Teichen und ließen sie zur Kühlhaltung bis in den
Sommer hinein in ihre tiefen Vorratskeller schaffen. Kühlschränke
und Gefriertruhen waren noch nicht erfunden. Daher auch der
Name Eisberg. Unter den Menschen des damaligen Bretteldorfes
am Eisberg dürfte eine armselige Existenz wie Leopold Karner
nicht weiter aufgefallen sein, jedenfalls bis ein damaliger NS¬
Beamter oder -Funktionär seinen Meldezettel mit dem Vermerk
„Wanderschaft“ und sein Vorstrafenregister, den Sündenkatalog
eines Vagabunden, der heute fein säuberlich getippt an den Mel¬
dezettel angeheftet ist, miteinander in Beziehung setzte und seine
Deportation in das KZ Dachau veranlasste.

Am 23. April 1914 wurde Leopold Karner vom Bezirksgericht
Haugsdorf nach Paragraph 468 des Strafgesetzbuches, also wegen
„Übertretung der boshaften Beschädigung fremden Eigentums“,
zu vier Wochen Arrest verurteilt. Danach folgten bis in die drei¬
Biger Jahre gut zwei Dutzend Verurteilungen durch Gerichte in
St. Pölten, Krems, Mank, Kufstein, Leonfelden, Hartberg und
Graz. Karner wurde wegen diverser Diebstahlsdelikte, aber auch
immer wieder nach dem sogenannten Vagabundengesetz von 1885
verurteilt, das unter anderem Folgendes unter Strafe stellte: „$ 1.
Wer geschäfts- und arbeitslos herumzieht und nicht nachzuweisen

Oktober 2012 29