notwendigen Unterlagen zu verschaffen, zu den größten Dichtern,
die wir in der Jetztzeit, also in den letzten Jahren gehabt haben.
Daß damals die St. Pöltner Nationalsozialisten besonders begeistert
waren, hängt damit zusammen — da muß ich die KPÖ-Gemeinderäte
daran erinnern — daß zu dieser Zeit irgend eine andere Partei ja gar
keine Dichterabende veranstalten konnte. Hätte es eine sozialistische
Partei gegeben, die Dichterabende veranstalten hätte können, dann
hätte auch die SPÖ möglicherweise einmal einen Weinheberabend
veranstalten können. Allein sein Buch „Wien wörtlich“ verdient
einen einmaligen Platz in der deutschen Literatur. Sie sind sonst in
literarischer Hinsicht immer bestrebt und wollen es in ihrer Presse
beweisen, daß sie manchmal über den Dingen stehen. Ich bedaure
heute dieses politische Abgleiten in der Beurteilung eines Dichters.
Wir können weder bei Goethe noch bei Schiller oder bei irgend einem
Dichter, auch nicht bei Grillparzer, über seine dichterischen Qualitä¬
ten urteilen und vielleicht dabei nachforschen, welcher Gesinnung die
Betreffenden gewesen sind. Aber es ist unzweifelhaft, daß Weinheber
ein großer deutscher Dichter war und hätte er sich gerade im Sinne
des Nationalsozialismus so wie viele andere geirrt, dann hat er seinen
Irrtum mit dem Selbstmord besiegelt, denn es ist ja bekannt, daß
sich Weinheber umgebracht hat. Es ist jedenfalls jedem abträglich,
diesem wirklich großen Dichter nachträglich vorzuwerfen, daß er
der Mittelpunkt von NS-Gesellschafien war. Ich bin selbst einmal
zufällig bei einem Dichterabend Weinhebers gewesen. Ich wufste gar
nicht, wer dort sein wird und habe leider feststellen müssen, daß ich so
ziemlich der einzige Nicht-Nationalsozialist war. Ich habe mir damals
vorgenommen, in diese Gesellschaft nicht wieder hineinzugehen. Ich
habe aus den Gedichten, die Weinheber damals vorgetragen hat, nicht
ein einziges gefunden, das auf eine nationalsozialistische Gesinnung
oder auf ein nationalsozialistisches Bekenntnis schließen hätte lassen.
Weinheber ist ein deutscher Dichter, darüber wird niemand anders
Gasthaus Stieglinsel in der Eisberg-Siedlung 1934.
Bildquelle: Stadtarchiv St. Pölten
urteilen. Er gehört zu den bedeutendsten Lyrikern, die wir in der
letzten Zeit in der deutschsprechenden Welt gehabt haben. Er ist vor
allem auch ein Österreicher und infolgedessen, glaube ich, können
wir gar nicht anders, als daß wir diesen Antrag auf eine Weinheber¬
gasse annehmen. Schließlich haben wir das getan, weil Weinheber
es verdient, unter allen Dichtern genannt zu werden und dann ist
leider der Jean Paul so unglücklich mit seinem Namen daran, daß,
wenn man in diese Gegend gekommen ist, man die schrecklichsten
verzerrien Namen gehört hat. Das hat uns bewogen, dieser unglück¬
lich gewählten Jean Paul-Strafe ein Ende zu machen und hier einen
anderen Dichter, das ist Weinheber, einzusetzen. Dem Jean Paul
ist Weinheber mindestens gleichwertig. Dies kann jede Literaturge¬
schichte bezeugen, sie können sich da bei ihrem Literaturpapst, dem
Abgeordneten Nationalrat Fischer ruhig überzeugen, der wird Ihnen
dasselbe sagen, was ich Ihnen gesagt habe.
Zwischenruf Gemeinderat Branschovsky: Das glaube ich nicht.
„Fischers Werk war einst in Österreich nahezu völlig ignoriert wor¬
den und doch in die Welt hinausgegangen; nun kehrt es, in einer
gänzlich veränderten Welt, nach Österreich zurück, um von hier,
wo es entstanden und unverkennbar geprägt worden ist, neuerlich
ins Gespräch gebracht zu werden.“ Das schrieb Karl-Markus Gauß
vor mehr als zwanzig Jahren im Nachwort zum achten Band der
von ihm unter Mitarbeit von Ludwig Hartinger herausgegebenen
Ernst-Fischer-Werkausgabe.' Es sollte der letzte Band bleiben, die
Werkausgabe blieb unvollendet. Und man darf daran zweifeln,
dass sich der zweite Teil des Satzes erfüllt hat. Fischers Werk ist
nicht wirklich nach Österreich „zurückgekehrt“. Und „ins Ge¬
spräch gebracht“ wurde es mit dieser verdienstvollen Ausgabe in
Österreich jedenfalls ungenügend, wenn auch alle, die sich seither
mit Fischer befassen, immer wieder auf die Gauß’sche Sammlung
zurückgreifen.
Die acht Bände erschienen nicht in Österreich (sondern in ei¬
nem deutschen Kleinverlag, von dem man nach sechs Bänden zu
einem anderen Verlag mit anderer Programmatik wechseln muss¬
te). Gauß schrieb den eingangs zitierten Satz 1991 — wohl auch
in der Hoffnung, nach dem Untergang des von Fischer führend
vertretenen und in seinen letzten Jahren spektakulär verdammten
Sozialismus stalinistischer Prägung könne vielleicht unbefangener
und scheuklappenloser Fischers umfangreiches Werk verbreitet
und beurteilt werden. Doch es kam bekanntlich anders. Einerseits
blieb er politisch auf jene seit Jahrzehnten angewachsene Gruppe
der vom Kommunismus/Stalinismus abgefallenen Intellektuellen
reduziert, denen nach dem Ende des Sowjetblocks erst recht we¬
nig Interesse entgegengebracht wurde. Andererseits wurde sein
literarisches, essayistisches und literaturkritisches Werk mit dem
Totschlagargument der politischen Verfehlungen als „erledigt“
betrachtet (letzteres insbesondere mit dem Verweis auf das peinliche
Anti-Tito-Propagandastück „Der große Verrat“).
So ist einer breiteren Öffentlichkeit von Ernst Fischer besten¬
falls noch bekannt, dass er nach dem Einmarsch der sowjetischen
und Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei 1968 das
Wort „Panzerkommunismus“ prägte. Einen wesentlichen Grund
für diesen blinden Fleck bildet zweifellos der Kalte Krieg. Grob
gesagt wurden Fischers Schriften bis in die Mitte der sechziger
Jahre in Österreich unter Ausschluss der Öffentlichkeit publi¬
ziert. Für ein Land, in dem Bertolt Brecht bis 1963 faktisch von
allen Theaterbühnen ferngehalten werden konnte, war einer wie
Fischer erst recht ein rotes Tuch. Und wurde erst vorsichtig und
staunend registriert, als er benützbar schien im Sinne der Kalten
Krieger West.