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Eins. Es ist weder möglich, noch beabsichtigt, sein umfangreiches
Werk in diesem Rahmen umfassend und zufriedenstellend auch
in Hinsicht auf seine dunklen Seiten darzustellen. Die Nachworte
von Karl-Markus Gauß in den acht Bänden der Werkausgabe
leisten diesbezüglich Singuläres. Ich wage dennoch den Versuch,
Fischers Leistungen blitzlichtartig anhand eines kleinen Beispiels zu
würdigen — einem Essay aus dem Jahr 1962 über Karl Kraus?. Der
Text beginnt für Fischer typisch — kämpferisch und mit loderndem
Herzen: „Niemand sage: Er war unser! Denn er war es nicht. Keine
Partei kann ihn für sich in Anspruch nehmen, keine politische oder
nationale Gemeinschaft.“ — Lässt nicht schon dieser Beginn auch
noch für heutige Leser eine erfrischend deutliche Sprache erken¬
nen, fern von jedem Dogmatismus, ausgesprochen von einem, der
damals immerhin noch Mitglied des ZK der KPÖ und erst drei
Jahre zuvor freiwillig aus dem Politbüro ausgeschieden war? Wohl
wandte sich Fischer damit auch gegen Primitivanalytiker in den
eigenen Reihen, die an einen wie Kraus keine anderen Maßstäbe
anlegen konnten oder wollten als „bürgerlich“, „kleinbürgerlich“
oder „gegenüber der Arbeiterbewegung unterstützend / feindselig“.
Mehr aber griff er mit einer derartigen Unzweideutigkeit jedenfalls
jene an, die, wie Gauß treffend diagnostizierte, „das Unterfangen
von Kommunisten, Karl Kraus auch nur zu zitieren, schon als
frechen Anschlag auf das eigene Besitzrecht an der österreichischen
Kultur denunziert“ hatten.?

Zwei. Fischer zitiert den Nörgler aus „Die letzten Tage der Mensch¬
heit“ mit dem Satz: „Hier ist das Herz von Wien und in dem
Herzen von Wien ist eine Pestsäule errichtet.“ Und Fischer ätzt:
„Karl Kraus lebte nicht mehr, als 1938 die neue Pest hereinbrach;
heute wüsste der Nörgler nicht, ob die Säule ... ein Mahnmal
gegen oder ein Denkmal für die Pest ist. Österreich sei zwar Opfer
gewesen, heißt es offiziell, doch manche der Offiziellen fügen
hinzu, Heldentum bleibe Heldentum, im Dienste sowohl der
Pestbekämpfung wie der Pestverbreitung.“ — Fischer trifft damit
punktgenau jenen Diskurs, mit dem sich dieses Land in den Jahr¬
zehnten seither abquält. Und er geißelt ergänzend Kraus zitierend
jene „Verantwortung“ im Nachkriegsösterreich der 2. Republik,
die sich äußert „in einem Gebilde aus angelernter Dementiersucht
und bodenwüchsiger Verlogenheit, jargonmäßig gemischt aus
diesem grauenhaft stereotypen ‚Jawoll‘ und ‚I waß von nix‘, ‚I hab
nix tan‘; sie können sich an nichts erinnern und sie haben sich beim
Rauchen einer Zündschnur nichts gedacht; erst aus den Zeitungen
haben sie erfahren, daß es eine Höllenmaschine war.“ (Kraus 1933
über österreichische Nationalsozialisten vor Gericht.)

Drei. „Meine Völker sind eines dem anderen fremd — umso besser.
Ich schicke Ungarn nach Italien und Italiener nach Ungarn. Aus
ihrer Antipathie entsteht die Ordnung und aus ihrem wechselsei¬
tigen Hass der Friede.“ So zitiert Ernst Fischer Franz den Ersten,
Kaiser von Österreich, in seinem Werk „Österreich 1948“. Bis
heute wird dieser Satz meines Wissens in keinem österreichischen
Schulbuch zitiert. Dort wird wie ch und je Habsburger-Verklärung
betrieben. Fischer hingegen, obwohl seinerseits von politischen
Gegnern manchmal auch als der „schwarzgelbe Fischer“ verächt¬
lich gemacht, geißelt gegen alle Habsburg-Nostalgie mit Kraus
entschieden die verhängnisvolle Rolle dieses österreichischen
Herrscherhauses (ohne zu negieren, welche Konsequenzen sich
daraus für das Geistesleben des Landes ergaben und das, was er in
einer zu Kriegsende entstandenen Schrift den „österreichischen
Volkscharakter“ nannte.° (Nebenbei: Aufbesondere Weise gelingt

32. ZWISCHENWELT

ihm dies in seinem großen Grillparzer-Essay.) Fischer stellt in be¬
eindruckender Art die kulturellen Entwicklungen um die vorige
Jahrhundertwende mit der Agonie des K.u.K.-Reichs in einen
Zusammenhang, lange bevor das wohlige Sich-Suhlen im „Wien
um 1900“ in Mode kam. So gelingt es ihm, in einem Absatz
schlüssig den Bogen von Sigmund Freud über Adolf Loos, Oskar
Kokoschka, Robert Musil und Franz Kafka zu spannen und darin
eine Widmung Arnold Schönbergs an Karl Kraus zu platzieren:
„Ich habe von Ihnen vielleicht mehr gelernt, als man lernen darf,
wenn man selbständig bleiben will.“ Um dann den „von sich
selbst besessenen, das Zeitalter verabscheuenden“ Kraus in den
Brecht'schen Olymp zu befördern: „Als das Zeitalter Hand an sich
legte, war er diese Hand.“ — Das mag heute manchen vielleicht
bereits als abgedroschene Standardanalyse erscheinen, aber 1962?

Vier. Wenn in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten, von Kraus und
den Frauen die Rede war, dann in der Regel von seinem gebroche¬
nen, problematischen persönlichen Verhältnis zum anderen Ge¬
schlecht im allgemeinen und bestimmten Frauen im Besonderen.
Fischer hingegen nähert sich Kraus in diesem Zusammenhang so:
„Immer wieder hat er die Frau ... gegen den Mann, gegen Unter¬
drückung und Heuchelei verteidigt. ‚Die bürgerliche Gesellschaft‘,
schrieb er 1908, ‚besteht aus zwei Arten von Männern, aus solchen,
die sagen, irgendwo sei eine Lasterhöhle ausgehoben worden, und
solchen, die bedauern, die Adresse zu spät erfahren zu haben‘.“
Und bekräftigend zitiert er Kraus weiter: „Als die christliche Nacht
hereinbrach und die Menschheit auf Zehen zu der Liebe schleichen
musste, da begann sie sich dessen zu schämen, was sie tat...“ Um
schließlich in eigenen Worten fortzusetzen: „Die Forderung nach
dem sexuellen Wahlrecht der Frau hielt Karl Kraus für wichtiger als
die nach dem politischen.“ — Fischer legt zu Recht seinen Finger in
diese wenige Jahrzehnte nach Kraus immer noch offene Wunde,
die zu schließen explizit erst der Feminismus der beginnenden
Siebzigerjahre auf seine Fahnen schrieb. Nicht erwähnt Fischer
übrigens, was ihm politisch besonders zupass gekommen wäre: Die
warmherzige und feurige Verteidigung Rosa Luxemburgs durch
Kraus anlässlich seiner Lesung im Jahre 1920 eines ihrer Briefe
aus dem Gefängnis.‘

Fünf. Das Thema Kraus und die Sprache wurde in den letzten
Jahrzehnten bereits derart ausgelutscht, dass ich hier nicht mit
weiteren (Halb-)Wahrheiten aufwarten möchte. Stattdessen nur
einige Zitate, um Fischers Denken hiezu anschaulich zu machen.
Kraus, so Fischer, „warb um eine Geliebte sein Leben lang, verlor
sie an den Tag, gewann sie nachts: die deutsche Sprache. Er diente
ihr, zum Unterschied von den Tagesschreibern, die sie zu beherr¬
schen wähnten, wenn sie ihr Gewalt antaten. Er unterhalte mit
der Sprache, erwiderte diesen Tagesschreibern Karl Kraus, ‚nur
eine unerlaubte Beziehung)‘; sie diene ihm nicht als ‚Mädchen für
alles‘. Er schrieb: ‚Ich beherrsche die Sprache nicht, aber die Sprache
beherrscht mich vollkommen.“ Nicht untypisch für Fischer findet
er einen überraschenden Vergleich: „Dieser Hymnus an die Sprache
ist jenem verwandt, den Goethe der Natur gewidmet hat: ‚Sie hat
mich hereingestellt, sie wird mich herausführen. Ich vertraue mich
ihr. Sie mag mit mir schalten.‘ [...] Karl Kraus hat die Sprache als
Natur verteidigt, gegen die rings um ihn lärmende Unnatur. [...]
Nicht wir sprechen, es spricht aus uns. Doch dieses ‚Es‘ ist nicht die
Natur, sondern eine ursprüngliche, kollektive Gesellschaft, deren
gemeinsames Werk die Sprache war. Die gesellschaftliche Wirklich¬
keit verändert sich schneller als das Wort. Daraus, dass Wort und