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Gerhard M. Dienes

Über Wolf Suschitzky

Als wir das Universalmuseum Joanneum und die Gesellschaft für
Kulturpolitik, Günter Eisenhut und andere - im November des
Vorjahres in London die Ausstellung „Ihe Memory Garden“ über
die Schriftstellerin und Malerin Mela Hartwig-Spira eröffneten, war
erin das Österreichische Kulturforum gekommen: Wolf Suschitzky.

Der „Freidenker“, wie sich Suschitzky selbst bezeichnet, zeigte
großes Interesse an Leben und Werk der Tochter des Freidenkers
Theodor Hartwig.

Mela Hartwig-Spira war 1938 von Graz nach London emigriert.

Auch Suschitzky ist Emigrant, ebenso wie James Joyce es war. Der
Verfilmung des Joyceschen „Ulysses“, einem gewagten Unterfangen,
hat ja Suschitzky, das Kameragenie, so Christoph Huber 2011 in
der „Presse“, seine Handschrift aufgedrückt.

Hartwig, Suschitzky, Joyce, die drei „einigt und verbindet“ -um
mit der Emigrantin Gina Kaus zu sprechen - „ unbewusst etwas:
das gemeinsame Erlebnis, der große Bruch“, die Emigration. Emi¬
grant, das heißt doch Auswanderer, sinniert Bertolt Brecht. „Aber
wirwanderten doch nicht aus nach freiem Entschluss, wählend ein
anderes Land. [...] Vertriebene sind wir, Verbannte.“

Brecht war 1933, nachdem in Deutschland die Nationalsozia¬
listen die Macht übernommen hatten, nach Österreich emigriert.
Knapp ein Jahr später kam es in dem Staat, den keiner wollte, nach
jahrelanger politischer Radikalisierung zur endgültigen Ausschal¬
tung der Demokratie. Diese Entwicklung nicht ertragen könnend,
nahm sich Suschitzkys Vater Wilhelm im April 1934 das Leben.

Wilhelm Suschitzky, der Opponent eines gewaltlosen Sozialis¬
mus, der Atheist, der die jüdische Gemeinde verlassen hatte, der
Freidenker und Mitglied des Abstinentenbundes, trat für den Acht¬
Stunden-Tagein, aber auch für die Rechte der Frau, für die sexuelle
Aufklärung und die Geburtenkontrolle. Duncan Forbes sieht in
ihm einen typischen Vertreter jener Mischung aus sozialistischem
Aktivismus und dem Ethos emanzipierter Modernität, wie sie für
das säkulare Judentum in Europa so kennzeichnend war.

Gemeinsam mit seinem Bruder Philipp (er emigrierte später
nach Frankreich) hatte Wilhelm, allen behördlichen Schikanen
trotzend, 1901 in Wien eine Buchhandelsfirma begründet. In
dem programmatisch dem Pazifismus und dem Sozialismus ver¬
pflichteten „Anzengruber Verlag Suschitzky“— benannt nach dem
sozialkritischen Schriftsteller Ludwig Anzengruber — publizierten
unteranderem Paul Federn, Rosa Mayreder und Theodor Hartwig.
„Unser Vater“ -erinnertsich Wolf Suschitzky- „hatuns ofterklärt,
dass die größte Solidarität den Menschen zukommen muss, mit
denen wir arbeiten, dann erst folgen die Verpflichtungen gegenüber
der Familie und danach die Heimat.“

Wenn Suschitzky „uns“ sagt, dann meint er sich und seine um
vier Jahre ältere Schwester Edith. Diese hatte, als die Mutter mit
dem neugeborenen Wolf 1912 aus der Klinik nach Hause kam,
gefragt:

„Wozu haben wir denn den gebraucht?“ Später hat die „große“
Schwester das Leben des „kleinen“ Bruders nachhaltig beeinflusst.

Beide Geschwister, vornehmlich Edith, erachteten ihren Vater
als nicht radikal sozialistisch genug. Da klingt vielleicht an, dass

der Vater einer Bewegung angehörte, die man auch die „K.u.k.
gung ang
Sozialdemokratie“ nannte.

WolfSuschitzky wurde in die Endzeit der Doppelmonarchie und in
deren Kaiserstadt Wien hineingeboren. Wien, eine Stadt zwischen
Traum und Wirklichkeit, zwischen Walzerseligkeit und Moderne,
zwischen Prunk und Armut — ich denke nur an die Ziegelarbeiter
am Wienerberg, dortwo das Wort „Ausbeutung“ in jeder Hinsicht
zutraf — Wien, eine Stadt, in der die Nationalitatenkonflikte des
Vielvölkerstaates aufeinanderprallten, und in der — denken Sie
nur an Bürgermeister Karl Lueger - ein immer stärker werdender
Antisemitismus sich breit machte.

1914 dann der Ausbruch des 1. Weltkriegs, in dem der britische
Historiker David Stevenson die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts
sieht. Der November 1918 brachte den Zusammenbruch, Not und
Chaos, Untergang. Wien wurdezum Wasserkopf eines Kleinstaates,
jedoch bald zum Symbol für eine fortschrittliche, sozialdemokra¬
tische Kommunalpolitik, vorbildlich mit ihrer Sozialgesetzgebung
und weithin anerkannt für ihr Wohnbauprogramm (bis 1933 sollten
64.000 Wohnungen geschaffen werden).

„Wissen ist Macht“, war nicht nur ein Schlagwort, vielmehr
stand das „Rote Wien“ auch für Schule und Bildung. „Mein Vater
war mit dem Schulreformer Otto Glöckel bekannt, der die Ansicht
vertrat, die Erziehung in der Gemeinschaft sei der individuellen zu
Hause vorzuziehen.“ Wolf kam in ein Internat, in dem nicht nur
der Grundstein für seine körperliche Fitness gelegt, sondern auch
seine schon zu Hause gehegte Liebe zu Büchern intensiviert wurde
sowie eine starke Beziehung zur Natur.

Suschitzky, dessen tiefes Interesse den Tieren galt, wollte Zoologie
studieren. Aber eine „schwere Wirtschaftskrise lastetaufder ganzen
Welt, Millionen Menschen darben“, so der führende österreichische
Sozialdemokrat Otto Bauer. Gerade in Wien war das Gespenst der
Arbeitslosigkeit ungeheuer präsent. Ein Viertel der Arbeitslosen
war jünger als 25 Jahre; das sollte uns heute Mahnung sein, stellt
doch eine Jugend ohne Hoffnung eine soziale Zeitbombe dar. Aus
finanziellen Gründen kam in dieser krisengeschüttelten Zeit für Su¬
schitzky ein Studium bzw. eine Laufbahn als Zoologe nicht in Frage.

Jetzt kam Schwester Edith ins Spiel. Die hervorragende Pianistin,
bekannt mit dem noch vielfach brüsk abgelehnten Arnold Schön¬
berg, war in Wien in einem Montessori-Kindergarten tätig. 1929
schließlich ging Edith nach Dessau ans Bauhaus, um Fotografin
zu werden. Rasch entdeckte sie die Kraft der Bilder im Kampf für
die Besserung der Lage der Armen.

Zurück in Wien, sah sie das sich breit machende Elend und
hielt es in Bildern fest, aber auch die Aufmärsche zum 1. Mai, in
denen die Sozialdemokratie Produktion und Reproduktion von
Klassenbewusstsein und Klassenstärke demonstrierte. Was Edith
Suschitzky zwischen 1928 und 1933 schuf, gehört zum Besten, was
die soziale Reportage-Fotografie hervorgebracht hat.

Die Schwester wurde Wolf zum Vorbild, und so besuchte er
in Wien die „Höhere Graphische Bundes-Lehr- und Versuchs¬
anstalt“. „Ästhetische Fragen der Fotografie standen dort nicht

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