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zur Diskussion; aber“ — ich zitiere Suschitzky — „wir hatten auch
ziemlich viel Zeichenunterricht, sogar Aktzeichnen, das lehrte uns,
die Augen offen zu halten.“ Und Suschitzky hatte die Augen offen.

Er registrierte früh die von den Nationalsozialisten ausgehende
Gefahr, die schon 1923 in Wien ihre Hetzparolen affichierten. Ein
Jahr zuvor hatte Joseph Roth in seinem Roman „Das Spinnennetz“
den „Sumpfder Reaktion“ angeprangert, die „moralische und geisti¬
ge Verwilderung, aus derals Blüte das Hakenkreuzlertum aufsteigt.“

„Die Furcht der Reichen vor der grollenden Armut gebiert den
Faschismus“, zeigte Otto Bauer auf. „Endkampf gegen Dollfuß
und seine Faschisten“, titelte der „Arbeiterwille“, die Zeitung der
steirischen Sozialdemokraten im Februar 1934. Dann sprachen die
Waffen. Der Austrofaschismus trugeinen fatalen, trügerischen Sieg
davon, Hitler erhob zunehmend unverhohlen seinen Anspruch
auf das Land.

Die Situation in Österreich wurde für Suschitzky immer uner¬
täglicher. Außerdem: er hatte sich in eine Kommilitonin-siekam
aus Holland — verliebt. Mit ihr hoffte er, eine bessere Zukunft in
England finden zukönnen. Jedoch in London verweigerte man ihm
die Arbeitserlaubnis. Das inzwischen verheiratete Paar ging nach
Holland. Dort fotografierte Suschitzky jüdische Elendsquartiere.
Dann verließ ihn seine Frau wegen eines anderen. Wolf entschied,
nach London zuriickzukehren. Die Stadt wurde immer mehr
Zufluchtsort fiir Sozialdemokraten und Juden aus Mitteleuropa
—und Edith lebte dort.

Sie hatte bei einem London-Besuch Alexander Tudor-Hart
kennen und lieben gelernt. Der Kommunist und Mediziner kam
nach Wien, besuchte einen Kurs beim bekannten Orthopäden
Prof. Böhler, heiratete hier Edith und ging mit ihr nach London.
Und wie in Wien hielt Edith auch hier das Elend der Arbeitslosen
in ihren Bildern fest.

Alexanders Praxis wurde in das Bergarbeitergebiet von Wales ver¬
legt. Wolfwar mit dabei, als ungeheuer eindrucksvolle Fotografien
über die Tristesse der massenhaft arbeitslosen Kumpel entstanden.

Edith hatte sich bereits einen guten Namen als Dokumentar- und
Porträtfotografin gemacht. Aber rasch wurde Suschitzky selbst zum
angeschenen Fotografen. Und bald war er es, der seiner Schwester
helfen musste.

Ihre Ehe war in Brüche gegangen. Edith gab das Fotoatelier auf.
Dann wurde eine geistige Behinderung des Sohnes konstatiert. Das
Kind musste in eine Anstalt. Die Mutter erlitt einen Nervenzu¬
sammenbruch und vernichtete einen Teil ihres Fotoarchivs. Nach
Kriegsende zwar wieder als freischaffende Fotografin tätig, widmete
sie sich nun verstärkt dem Fürsorgedienst und dem Handel mit
Antiquitäten. Edith starb 1973.

Zurück in die 1930er Jahre- Wolf Suschitzky begann, das alltägliche
Leben in der Metropole des Vereinigten Königreiches fotografisch
festzuhalten und schuf damit zeitgeschichtliche Dokumente, die
beispielsweise zeigen, dass einst im Hyde Park die Schafe für den
„englischen“ Rasen sorgten. Beeindruckt war er von der Charing
Cross Road:

Als ich zum ersten Mal nach London kam, fand ich es faszinierend,
dass gewisse Geschäfte und Gewerbebetriebe in bestimmten Straßen
(konzentriert) waren |...] Die Charing Cross Road war voller Buch¬
handlungen. Jedes Geschäft hatte auch draufsen Bücher ausgelegt, meist
waren das gebrauchte, und es gab immer viele Passanten, die in den
Büchern stöberten. So kam ich auf die Idee, selbst ein Buch über diese
Straße und Soho, das angrenzende Viertel, wo sich das Nachtleben

abspielte, zu machen.

36 ZWISCHENWELT

Bücher waren für Suschitzky offensichtlich ein Ort der Freiheit.
Und Bücher riefen in ihm wohl auch die Erinnerung aan eine längst
untergegangene, zerstörte Kultur in Wien wach. Erinnerungen
an eine Zeit, als das geschriebene Wort eine zentrale Waffe im
Klassenkampf war.

Das Buchprojekt über die Charing Cross Road scheiterte
an den hohen Kosten. Die Bilder aber wurden zu einer Anth¬
ropologie städtischen Lebens, zeigend die Elegance der High
Society und deren kultivierte Langeweile, die gut gekleideten
Müßiggänger mit Melone, die den sich abschuftenden Stra¬
Benarbeitern zuschen oder sich die Schuhe putzen lassen. Paul
Rotha, einer der Gründungsväter des sozialen Dokumentarfilms
in England, wurde auf den damals 25jährigen aufmerksam.
Rotha war ein energischer Befürworter der „working-class
propaganda“. Sein Anliegen: die Würde menschlicher Arbeit
auf die Leinwand zu bringen. Wie seinerzeit die österreichische
Sozialdemokratie versuchte er, die Kultur in den Dienst des
Klassenkampfs zu stellen; allerdings, so Duncan Forbes, ohne
die Arbeiterklasse an der Gestaltung dieser Kultur wirklich
teilnehmen zu lassen.

1937 wurde Suschitzky Kameraassistent bei Rotha. In der Folge
finden wir ihn, der beim Filmen immer seine Fotokamera mit hatte,
in den diversen Bergarbeitergebieten, in den walisischen Stahlwer¬
ken, in den Werften von New Castle und bei den Schleppkähnen

im Herzen Londons.

Mai 1940 - durch die deutsche Invasion in Frankreich bestand die
Gefahr, dass sich die Aggression Hitlerdeutschlands gegen Großbri¬
tannien richten könnte. London stufte jetzt die EmigrantInnen als
feindliche Ausländer ein. Eskam zu Masseninternierungen. Auch
Suschitzky galtals „enemy alien“ underhielt kurzzeitig Arbeitsverbot
im Filmbereich. Der Internierung konnte er dank der Anstellungals
Medizin- und Werbefotograf, einem kriegswirtschaftlich wichtigen
Posten, entgehen.

Ab 1940 publizierte „Su“ -so nennen ihn Freunde - eine Reihe
von Fotografie-Ratgebern und trug mit diesen zum Nachkriegs¬
boom der Amateurfotografie bei.

Die Kriegspropaganda benötigte erfahrene Kameraleute und
so trat Suschitzky 1942 als „Director of Photographie“ in Rothas
Firma ein und drehte Kurzfilme für das britische Informations¬
ministerium. Parallel dazu trat, wie schon früher, die Tier- und
Kinderfotografie in das Zentrum seines Interesses.

Man kann Kinder und Tiere, so Suschitzky, „nicht groß arran¬
gieren, sondern muss geduldig aufden richtigen Moment warten.“
Von Vorteil erscheint ihm, dass sich weder die Kinder noch die Tiere
über das Resultat beklagen.

Der Kameramann schufbei der Produktion von Tierfilmen auch
fotografische Tierporträts, wie das des Gorillas Guy, des absoluten
Publikumslieblings im Londoner Zoo. „Erbesaß“, sagt Suschitzky,
„sehr viel Würde und große Intelligenz.“ Guys Blick hat nichts mit
dem jenes Panthers gemeinsam, den Rainer Maria Rilke im Pariser
Jardin des Plantes sah. Dessen Blick war im Vorübergehen der Stäbe
„so müd geworden, dass er nichts mehr hält“.

Suschitzkys Tieraufnahmen blenden oft jeden Hinweis auf die
Gefangenschaft des Tieres aus. Er folgte damit der Strategie des
Londoner Zoos, die Besucher mit Hilfe aus nächster Nähe bestaun¬
barer, exotischer Impressionen in den Bann zu schlagen.

1956 erschien Suschitzkys Buch „Kingdom ofBeasts“ mit einem
Text von Julian Huxley, dem Leiter der „Royal Zoological Society“.
Julians Bruder Aldous, den Autor der erschreckend prophetischen