Die Debatte, die von Claudia Erdheims Kritik
an Lisa Marksteins Buch ausgelöst wurde, ist
vordergründig eine Flucht vor dem eigentlichen
Vorwurf, den Erdheim an Markstein richtet. Die
Kritik an Markstein betrifft nicht deren Ver¬
dienste um Solschenizyn und die sowjetischen
Dissidenten der Breschnew-Zeit. Es geht auch
nicht darum, ob Markstein ihrem Ausschluss aus
der KPÖ durch einen Austritt zuvorkommen
hätte müssen. Im Mittelpunkt steht die Frage,
ob Marksteins Vater, Johann Koplenig, ein Sta¬
linist war. Diesem Ihema weichen sowohl Karl
Wimmler als auch Martin Pollack aus.
Wer denn wenn nicht der Vorsitzende einer
sowjethörigen Partei, die der Niederschlagung
des Arbeiteraufstandes in der DDR 1953 ebenso
applaudierte wie der des ungarischen Volks¬
aufstandes 1956; wer, wenn nicht Koplenig,
der die Schauprozesse in Moskau ebenso wie
die Todesurteile gegen die „Zionisten“ Slansky
und Co. ausdrücklich billigte; der den gegen
„Irotzkisten“ und „Titoisten“ gerichteten
Christel Wollmann-Fiedler
Vernichtungsterror ebenso legitimierte wie
jede einzelne Facette stalinistischer Politik —
einschließlich des Paktes mit Hitler; wer wenn
nicht Johann Koplenig war ein Stalinist? Dass
seine Unterschrift unter der Unabhängigkeitser¬
klärung vom 27. April 1945 steht, ändert daran
ebenso wenig wie die Verdienste der Roten Ar¬
mee an der Befreiung Österreichs irgendetwas an
den Verbrechen Stalins zuzudecken vermögen.
Dass Johann Koplenig offenbar ein warmherzi¬
ger Vater war, das festzuhalten ist das gute Recht
der Tochter. Dass er aber deshalb kein Stalinist
gewesen wäre, das kann doch nicht ernsthaft
behauptet werden.
Claudia Erdheim mag der Bezugzu dem Buch
„Opa war kein Nazi“ als taktischer Fehler vor¬
gehalten werden; ein Fehler deshalb, weil dies
den Apologeten der KPÖ erlaubt, statt über
den Stalinismus zu sprechen in den endlosen
Diskurs über Parallelen und Unterschiede zwi¬
schen Hitler und Stalin auszuweichen. Der Kern
von Erdheims Argumentation aber kann nicht
Berlin — Wien ist ein Katzensprung, von Czer¬
nowitz nach Wasjugan in Sibirien sind es bereits
weit iiber viertausend Kilometer und von Tomsk
nach Tel Aviv gar mehr als fünftausend, eine
lange und große Reise. Die lange große Reise
war für Margit Bartfeld-Feller und ihre Familie
1990 die erste Reise in ein westliches demokra¬
tisches Land, ein freies Land, Israel. Nach 50
Jahren Verbannung. Als Einwanderer wurden
sie aufgenommen.
1941 wurde Margit mit den Eltern und dem
Bruder Otti bei Nacht und Nebel aus Czer¬
nowitz von den Sowjets nach Sibirien in die
Taiga deportiert. Stalin, der Tyrann, befahl die¬
se Untaten. Juden, Intellektuelle, Fabrikanten
und politisch Andersdenkende wurden vom
Estland bis ans Schwarze Meer in Viehwaggons
gepfercht, nordéstlich in Richtung Sowjetunion
transportiert und weiter auf Schiffen nach Sibi¬
rien zum Schwerstarbeiten verschleppt. Margit
war jung, gerade 18 Jahre alt, ihr Bruder jünger.
In Czernowitz in der Bukowina wurde Margit
Bartfeld 1923 geboren, ging dort zur Schule,
für Literatur und Musik begeisterten sie die El¬
tern. In Czernowitz, der Stadt Rose Ausländers
und Paul Celans, lebte Margit in Geborgenheit.
Noch bevor Hitlers Schergen in die Bukowina
kamen, ließ Stalin die erwähnten Bewohner
abholen und schickte sie zum Sterben durch
Hunger und unmenschliche Lebensverhältnisse
in die Taiga an den Wasjugan.
In der Akademie der Wissenschaften in Wien
am ehemaligen Universitätsplatz gegenüber der
Jesuitenkirche, trafen sich am 23. Mai 2012
Margit Bartfeld-Feller und Professor Dr. Ge¬
rald Stourzh. Beide lasen abwechselnd aus
Margits Büchern, die sie in den letzten Jah¬
ren geschrieben hat und von E.R. Wiehn aus
Konstanz herausgegeben wurden im Hartung
und Gorre Verlag. Langeweile wollten sie nicht
aufkommen lassen. Nein, langweilig kann die
Lebensgeschichte der Deportierten nie werden.
Fünfzig Jahre dauerte das sehr persönliche Le¬
ben der Margit Bartfeld-Feller im Sumpfgebiet
Sibiriens!
Marlies Descovic begrüßte die Zuhörer, Pro¬
fessor Stourzh erzählte über die Begegnung mit
Margit vor Jahren in Israel. Eine Freundschaft
ist zwischen den beiden entstanden, man spür¬
te es. Historische Erklärungen und Daten von
Gerald Stourzh sind wichtig, die große Karte an
der Wand zeigt Sibirien mit seinen Ausmaßen.
Diese Verbannung der Juden und anderer ist bei
uns in Westeuropa kaum bekannt. Durch die
Bücher von Margit Bartfeld-Feller kann dieses
Defizit aufgeholt werden.
ernsthaft bestritten werden: Ein auf der Bühne
der Weltpolitik agierender Kommunist, der alles
und jedes guthieß, was Stalins verbrecherische
Politik ausmachte — ein solcher Kommunist
war natürlich Stalinist. Wenn Koplenig nicht
Stalinist ware, dann kénnte der Stalinismus ja
gleich auf eine Person reduziert werden — auf
den schrecklichen Georgier. Er allein ware dann
an allem schuld. Alle anderen aber könnten sich
exkulpiert fühlen.
Elisabeth Marksteins Buch „Moskau ist schöner als
Paris“ (Wien 2010) wurde von Claudia Erdheim
zuerst in ZW Nr. 1-2/2010, S. 86-87, besprochen.
Dagegen wandie sich Karl Wimmler mit „Elisabeth
Markstein Tochter eines ,.Nazi-Opas’?“in ZW Nr.
4 (Jänner 2012), S. 64-65, und Martin Pollack
kommentierte den von Wimmler gegen die ZW¬
Redaktion erhobenen Vorwurf, mit Marksteins
Buch nicht vorsichtig und respektvoll genug um¬
gegangen zu sein, in ZW Nr. 1-2/2012, S. 80.
Das Gedicht „Heimkehr“ des Czernowitzer
Lyrikers David Goldfeld trug Margit Bartfeld
Feller vor, Gerald Stourzh las aus Margits Buch
„Am östlichen Fenster“ die Geschichten über
„Fräulein Harnik“ und „Papa Moritz Bartfeld“,
der schon bald nach der Deportation in Sibiri¬
en starb. Aus dem gleichen Buch hatte Margit
„Eine Art Grabstein“ und die „Roten Beeren“
ausgesucht.
1948 heiratete Margit Bartfeld den ebenfalls
aus Czernowitz deportierten Kurt Feller. In
M. Bartfeld-Feller im Theatersaal der Akademie der
Wissenschaften. Foto: Chr. Wollmann-Fiedler, 2012