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konnten, leider des Öfteren auf Nationalsozia¬
listen in Argentinien stoßen mussten — einerseits
gab es viele gleichgeschaltete Institutionen und
Anhänger der Nazis, andererseits konnten be¬
kanntlich nach dem Krieg viele NS-Täter nach
Argentinien flüchten - stellt Kratochwil durch
die unterschiedlichen Gäste der Feier dar. An
der’ Tafel sitzen NS-Opfer, wie etwa die vertrie¬
bene Familie des jüdischen Psychologen Elias
Königsberg und dessen Neffe, der samt Frau aus
Israel zu Besuch ist, neben der Jubilarin, die an
nationalsozialistischen Überzeugungen festhält,
und einem Mauthausen-Wächter, Siegmund

Rohr. „Jeder muss den anderen ertragen, so wie
er ist, so grauenhaft es vielleicht sein mag“, lässt
Elias Königsberg die Versammelten wissen und
trifft damit den wunden Punkt.

Erzählt wird aus einer Vielzahl von Perspek¬
tiven; jede Erzählperspektive in ihrer eigenen
Erzählfarbe und Sprachmelodie. Anhand von
Rückblenden erfährt der Leser von den Schick¬
salen der einzelnen Gäste, der Nazizeit in Ös¬
terreich und der Kolonialisierungsgeschichte
Patagoniens bis hin zu aktuellen Konflikten mit
den Mapuche-Indianern.

Die jüdischen Gemeinden des Burgenlandes
können auf eine besonders traditionsreiche Ge¬
schichte zurückblicken. Ihre Jeschiwot waren
berühmt und ihre Traditionen werden bis heute
von den vertriebenen Nachkommen gepflegt,
wie die Einleitung des hier zu besprechenden
Buches richtig feststellt.

Diese Traditionslinien hängen auch mit ganz
besonderen Persönlichkeiten zusammen; diese
verbrachten aber immer nur einige Jahre ihres
Lebens im Burgenland und müssen daher, wenn
Nachgeborene über sie schreiben, im Gesamt¬
zusammenhang ihres Lebens gesehen werden.

In Eisenstadt leitete zum Beispiel Esriel
Hildesheimer (1820 — 1899) eine berühmte
Jeschiwa; diese wurde jedoch bald wegen der
Einbeziehung säkularer Fächer angegriffen. Er
ging daher nach Berlin, wo er das modern ortho¬
doxe Rabbinerseminar gründete. Dieses Seminar
wurde im Laufe seiner Geschichte so wichtig,
dass 2008 im Verlag Hentrich und Hentrich
sogar ein biographisches Nachschlagwerk über
seine Absolventen publiziert wurde.

Vemutlich noch berühmter und wirkungs¬
voller war Chatam Sofer, der die Jeschiwa von
Mattersburg leitete, bevor er einen Ruf nach
Pressburg annahm, wo er zum ideologischen
Begründer der Ultraorthodoxie wurde.

Hildesheimer kommt laut Index im Buch
nicht vor; Chatam Sofer hat zwar drei Erwäh¬
nungen, aber die zahlreichen spannenden Fa¬
cetten dieser Biographie suchte die Rezensentin
vergeblich.

Christof Habres, der als Journalist und Kunst¬
handler in Wien arbeitet, und Elisabeth Reis,
» Irainerin in integrativer Konfliktforschung“
und Betreiberin des „kunst.raum purpur19“
in Wien, haben mit dem Buch „Jüdisches Bur¬
genland“ aus der in den Bibliotheken leicht zu¬
gänglichen Literatur über die Geschichte der
jüdischen Gemeinden des Burgenlands ein
populäres Lesebuch erarbeitet und dazu noch
einige heute im Burgenland lebende Juden wie
Patrick Frankl, Robert Tannenbaum und Lutz
Popper befragt.

Im Kapitel über die finanziellen Probleme
des „Österreichisch jüdischen Museums“ in

Eisenstadt, die dessen Direktor Johannes Reiss
im Buch anspricht, findet sich der relativierende
Satz: „Selbstverständlich weiß er sich damit in
bester Gesellschaft mit anderen Museumsleitern
in Österreich und im Ausland.“ Der lokal sehr
aktive Museumsdirektor hofft, wie er indirekt
zu verstehen gibt, auf die Möglichkeiten zur Fi¬
nanzierung von ein, zwei Wechselausstellungen
und für die Herausgabe einer wissenschaftlichen
Studie über die burgenländischen jüdischen Ge¬
meinden auf dem letzten Stand der Forschung.
Der Landeshauptmann des nicht schr großen
Burgenlandes Hans Nissl (SPÖ) hat angeblich
das jüdische Museum in Eisenstadt noch nie
besucht, obwohl seine Amtsräume sich fast in
Gehdistanz befinden.

Im Kapitel über Oberrabbiner Yitzchak Eh¬
renfeld in Jerusalem findet sich das Eingeständ¬
nis der Autoren: „Es ist für uns nicht einfach,
nahezu unmöglich, gedanklichen Zugang zu
dieser Religiosität zu finden.“ So wundert es
nicht, dass weiter unten zwei unterschiedliche
Bräuche zu den Hohen Feiertagen, Taschlich
und Kapparot, sowohl falsch beschrieben als
auch die entsprechenden Feiertage verwechselt
werden.

Wie faszinierend die Geschichte der bur¬
genländischen Juden ist, zeigt ein Blick in die
jüdische Musikgeschichte, waren doch Karl
Goldmark, Joseph Joachim und Gustav Pick,
über die einiges im Buch steht, mit Deutsch¬
kreutz/Zelem, Kittsee und Rechnitz verbunden.

Wie vielschichtig sie auch ist, zeigt das Beispiel
der Gemeinde Rechnitz. Diese war die einzige
burgenländische jüdische Gemeinde, die sich
nicht der orthodoxen, sondern der neologen
Strömung des ungarischen Judentums - nicht,
wie die Autoren fälschlich schreiben, dem Re¬
formjudentum - anschloss. Diese Facette blieb
in der bisherigen Historiographie noch fast völ¬
lig unbearbeitet, vielleicht deswegen, weil auch
der Rabbiner, der mit dieser Sondergeschichte
verbunden ist, Mayer Zipser, noch keinen Bio¬
graphen gefunden hat.

Im Kapitel über Rechnitz wird auch ausführ¬
lich auf das Massaker an den zur Arbeit am
Südostwall verschleppten ungarischen Juden,

Die jüngere Generation leidet in diesem Ro¬
man sichtlich unter der Bürde, die den nach¬
kommenden Generationen durch die Kriegs¬
und Vertreibungsgeschichte ihrer Eltern und
Großeltern aufgeladen wird.

Mit „Scherbengericht“ präsentiert Germän
Kratochwil einen ganz besonderen Emigrati¬
onsroman, der vor allem durch seine Vielschich¬
tigkeit und Erzählkunst besticht.

Monika Tschuggnall

Germdn Kratochwil: Scherbengericht. Wien: Picus
2012. 312 S. Euro 22,90

denen seit März 2012 ein Freilichtmuseum
gewidmet ist, eingegangen, was angesichts der
Fülle der Publikationen rund um den Träger¬
verein R.E.EU.G.I.U.S, der Prominenz der
Gründer um Paul Gulda und Marietta Torberg
und Elfriede Jelineks darauf Bezug nehmenden
Stückes „Der Würgeengel“ nahe liegt.

Hinweise auf die gegenwärtige Gedenkkultur
und auf die verfahrene Situation rund um die
Synagoge in Kobersdorf, wo Pläne zur Reno¬
vierung oder zur Gründung eines Museums
zur Erinnerung an das burgenländische Land¬
judentum gescheitert sind, runden das Buch ab.
Vielleicht werden diese Passagen, die sicher nicht
leicht zu schreiben waren, einige Funktionäre
und Politiker zum Nachdenken anregen.

Zu hoffen bleibt weiters, dass die Kulturab¬
teilung des Landes Burgenland, die das Buch
förderte, doch ein wenig Geld für die wissen¬
schaftlichen Projekte von Museumsdirektor
Johannes Reiss hat.

Zum Schluss noch eine Bemerkung zu einem
weiteren Buch des Verlages. Dieser fiel bisher vor
allem mit Publikationen über die Geschichte der
Juden in Wien und mit Reprints von Werken
großer österreichischer Autoren auf und veröf¬
fentlichte 2011 einen Nachdruck des wichtigen
Buches „Die Juden im alten Wien“ von Ludwig
Bato (Phaidon Verlag 1928). Dem Verleger fiel
das Buch, wie er bei Exlibris in Ö 1 erzählte,
im letzten deutschsprachigen Antiquariat, dem
berühmten Pollack in der King George Straße
in Tel Aviv, in die Hände. Das Nachwort, das
auf Literatur- oder Quellenhinweise verzichtet,
enthält leider auch wieder die Information, dass
Bato ursprünglich „Ludwig Berliner“ geheißen
habe, was, da nicht nachweisbar, in etlichen
gedruckten Artikeln und in Batos online-Biogra¬
phie im Österreichisch Biographischen Lexikon
verschwiegen wird.

EA.
Christoph Habres, Elisabeth Reis: Jüdisches Bur¬

genland. Entdeckungsreisen. Wien: Metroverlag
2012. 189 S. Euro 16,90

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