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erscheinen läßt. Das Scheitern hier versteht Amery durchaus als
moralisches Versagen:

Zwei Fakten haben mir dies so recht zu Bewußtsein gebracht:
einmal Sartres öffentliche Erklärung, daß er auch im zweiten Gang
der französischen Präsidentschaftswahl ... nicht für Mitterand ...
stimmen werde, da doch die ganze Abstimmung eine bürgerlich¬
mystifizierende Veranstaltung sei, die der authentische Revolutionär
nur ignorieren könne; zum anderen die Lektüre des dritten Bandes
von Sartres Werk über Flaubert, eines Buches, das den ... Philosophen
im Vollbesitz seiner durchdringenden Intelligenz und visionären Kraft
zeigt. Auf der einen Seite also eine fast schon kindisch vertrotate,
nachgerade realitätsblinde politische Allüre — auf der anderen un¬
gebrochene Genialität."

Etwas später wird diese ‚realitätsblinde Allüre‘ näher definiert.
Für diejenigen, die in Sartre ein Vierteljahrhundert lang ihren
Meister geschen hätten, sei es „ein zutiefst verstörendes und trauri¬
ges Schauspiel, wie dieser Mann sich an nicht mehr legitimierbare
Vorstellungen von der absoluten Revolution klammert“'°. Diese
falschen Vorstellungen hätten ihn seit 1968 zunehmend zu einer
Entfremdung von der Realität geführt, ja überhaupt zu einem
falschen Bewußtsein, wofür sein Besuch bei Baader in Stamm¬
heim’ ein schlagendes Beispiel sei. „Der Normal-Intellektuelle
fragt sich, ... was Sartre wohl hoffen mag von Baader zu erfahren.
Wie Revolutionen nicht gemacht werden, nicht gemacht werden
können in einem Land, dessen Demokratie immerhin noch funk¬
tioniert?“'? Die „ungebrochene Genialität“, die Amery in diesem
letzten Sartre-Aufsatz dem Flaubert-Unternehmen attestiert, ist
durchaus zweideutig, ist Lob und Kritik zugleich. Gewiß sei Der
Idiot der Familie ein titanisches Unternehmen, „das versucht,
Phänomenologie, Psychoanalyse und Marxismus theoretisch zu
verklammern“', eine „inspirierte Gedankendichtung“”, die zwei¬
fellos Sartres größtes Werk darstelle. Und doch, scheint mir, stellt
sie in Amerys Augen nur die Kehrseite des ‚falschen Bewußtseins‘
dar. Die Genialität, von der hier die Rede ist, wird Sartre gewis¬
sermaßen angelastet. Sie kann sich nur deshalb ‚ungebrochen‘
äußern, weil sie ihren Ursprung in besagter Realitätsblindheit hat.
Mit seinen zwei Kapiteln „Die Wirklichkeit Gustave Flauberts“
und „Die Wirklichkeit Charles Bovarys“ macht Améry es sich zur
ausdrücklichen Aufgabe, eben diese Wirklichkeit einzubringen,
an der sich Sartre vergriffen hat. Schon diese äußerliche Struktu¬
rierung legt nahe, daß Charles Bovary als Antwort auf Der Idiot
der Familie konzipiert wurde.

Es ist also nicht von ungefähr, daß dieses letzte Buch, bevor Jean
Amery den Freitod wählte, nicht etwa Flaubert, sondern vielmehr
Sartre gewidmet ist. Es stellt seine letzte Auseinandersetzung, ja
seine letzte Abrechnung mit dem so lang geliebten Meister dar.
Daß diese Liebe keine glückliche war, läßt sich aus Amerys Flau¬
bert herauslesen. Mit Charles Bovary hinterläßt uns Jean Amery
ein Testament: Der Prozeß, der hier so haßerfüllt gegen Flaubert
als Vergewaltiger der Wirklichkeit geführt wird, ist primär eine
im Diskursiven immer wieder verdrängte Anklage gegen den
‚realitätsblinden‘ Sartre. Die Rücknahme der Anklage ist nicht
als Widerruf ihrer sozialen Berechtigung zu verstehen. Sie stellt
vielmehr die Versöhnungsgeste eines restlos Verzweifelten dar,
der nicht mehr an die Wirksamkeit seines Protests glaubt und
seinen Frieden mit der Welt machen will, bevor er den Tod als
Erlösung willkommen heißt.

Damit habe ich schon vorweggenommen, was erst noch zu
beweisen ist. Der Einwand, Sartres /diot der Familie ließe sich
mit Amerys Charles Bovary schon deshalb nicht in Verbindung

bringen, weil Sartre eine Analyse des Bovary-Romans schuldig
geblieben ist, entfällt: Die knapp zweieinhalbtausend Seiten be¬
ziehen sich indirekt, aber auch direkt immer wieder auf den Autor
der Madame Bovary, nicht zu sprechen von Sartres Nachträgen zu
Der Idiot der Familie, die sich ausschließlich mit diesem Roman
auseinandersetzen.”! So lesen wir bei Sartre in einem Interview:
„Emma ist dumm und böse und die anderen Charaktere sind
um nichts besser, außer Charles, der schließlich, das habe ich erst
später entdeckt, eins der Ideale des Autors darstellt.“”? So erhebt
Sartre im ersten Band Charles über die Charaktere von Homais
und Lariviere, weil er, auf Grund seiner inhärenten Unschuld - als
einziger — in seiner Liebe zu Emma einer Überschreitung fähig
sei. An anderer Stelle spricht Sartre von der „gewaltigen träume¬
rischen Dummheit des Kindes Charbovary“ — wobei Dummheit
hier eine Form von göttlicher Naturnähe bezeichnet —, „der als
Mann die unvergleichliche Ehre haben wird, an seiner Liebe zu
sterben“”*. Und immer wieder spricht er von der Anziehungs¬
kraft, die Charles Bovary auf Flaubert ausübt: „Charles Bovary
ist zwar nicht Gustave, obwohl er mehrere Male völlig in diesem
Charakter aufgeht.“

Warum aber sieht sich Améry zu einem Gegenentwurf veran¬
laßt? Rennt er nicht offene Türen ein? Die Antwort finden wir
bei Sartre selber. So bemerkt er, Flaubert habe in seinem Roman
allen Ehrgeiz daran gesetzt, ein negatives Porträt von Charles zu
entwerfen: „... während seiner Schuljahre versucht er ihn zu malen,
nicht so wie er ist, sondern so wie er nicht ist“?°. Außerdem wirft
Sartre, wie später Améry, Flaubert ein falsches geschichtliches
Bewußtsein vor. Überhaupt kommt Sartre seinen Kritikern sehr
weit entgegen, wenn er potentielle Leser seines Werks auf die
Zweideutigkeit seines Unternehmens aufmerksam macht. Was
den Inhalt anlangt, sagt er, handle es sich durchaus um eine Flucht
aus der politischen Gegenwart in die Gegenwart Flauberts; was
aber die marxistische und psychoanalytische Methode betrifft,
trage er zur Lösung der heutigen Probleme bei. Um diese beiden
Dimensionen miteinander zu verbinden, habe er auf die Empathie
zurückgreifen müssen.”

Was in Sartres Bezugnahmen und Ausführungen auflällt, ist
nicht die Verschiedenheit seiner Bewertung von der Amérys im
einzelnen — da lassen sich geradezu verblüffende Übereinstimmun¬
gen feststellen —, sondern der grundverschiedene Ansatzpunkt.
Geht es Sartre in jeder Zeile um die Suche nach der Wirklichkeit
Flauberts, das heißt um des Autors psychologische Wirklichkeit,
die er aus minutiöser Werk- und Gesellschaftsanalyse abzuleiten
versucht, so geht es Am£ry in seinem Charles Bovary allein um
die soziale Wirklichkeit der Romanfiguren. Améry geht es um ein
‚wahres‘, das heißt, positives Porträt von Charles Bovary, Sartre
geht es nur um ein ‚wahres‘ Porträt von Flaubert.

Sartre bemüht sich durch einen maximalen Aufwand an Phan¬
tasie, Einfühlungskraft, ja Vision um ein ‚totalisierendes‘ Bild
vom Menschen Flaubert. Er enthält sich aller moralisierenden
Vor-Urteile, die ihn von dieser Rekonstruktion abhalten könnten.
Das Geheimnis des Schriftstellers Flaubert zu ergründen, ist ihm
höchstes Ziel. Ganz im Gegenteil Jean Ame£ry: Sein Standpunkt
ist Standpunkt eines Nachschöpfers, der von vornherein gegen
den ursprünglichen Schöpfer seines Helden — denn Flauberts
Unheld wird ihm zum Helden - Partei ergreift. Die Methode
dieses Rehabilitationsverfahrens bezieht er insofern von Sartre,
als beide, Sartre und Amery, jeweils in Anwaltsmanier im Namen
ihrer Schutzbefohlenen gegen deren Gegner zu Felde ziehen.
Sartres Schrift, insbesondere der erste Band, wie auch Amerys

November 2012 25