OCR Output

Schrift nehmen sich streckenweise wie Protokolle eines Prozesses
aus. Bei Sartre wird der Prozeß zunächst gegen den leiblichen
Vater Flauberts und schließlich gegen den allmächtigen Vater
der Schöpfung geführt, dem Flaubert zeit seines Lebens grollt.
Bei Amery wird der Prozeß unerbittlich gegen den Schöpfer der
Madame Bovary geführt, nicht etwa, weil er es sich erlaubt habe,
Emma in den Vordergrund seines Meisterromans zu stellen, son¬
dern weil Charles als einfaches Geschöpf seiner Menschenrechte
beraubt wird.

Daf Gustave Flaubert nicht nur Vorwand ist, an dem Jean
Améry seinen Sartre-Schmerz ‚aufhängt‘, bezeugt ein sieben Jahre
älterer Essay” Ame£rys zum 150. Geburtstag des „Meisters der
Bovary“. Ausgangspunkt in dieser Studie bleibt auch hier Sartres
„Gedankengebirge“, das ihm, so bekennt Amery, die Sicht auf
Flaubert verstellt habe. Aber er macht sich vom Sartre-Flaubert
frei, stellt schon hier anklagend den Besitzbürger Flaubert an
den Pranger, der die Kommunarden von 1871 als „tollwütige
Hunde“” beschimpfte. Dann aber, vor seiner eigenen Parteilich¬
keit zurückschreckend, stellt Amery das Gleichgewicht wieder
her: Ungeachtet seines Besitzbürgertums sei Flaubert auch der
„kyklopische Zermalmer bürgerlicher Feigheit, Dummheit und
Raffgier gewesen, Schöpfer der lächerlichen bis abscheulichen
Figuren in der Bovary, des Apothekers Homais, des Händlers
L-Heureux“”. Ausgewogen wird hier referiert, die Perspektive des
Erzählers Flaubert bleibt gewahrt. Da, wo Sartre den Nachdruck
auf die Unterdrückung durch den Vater und auf die Lieblosigkeit
der Mutter legt, korrigiert Am£ry, indem er von dem besonders
zärtlichen Sohn-Eltern-Verhältnis spricht. Flaubert habe in der
Gestalt des Doktors Lariviere liebevoll das Porträt des eigenen
Vaters skizziert. Sartre seinerseits wollte in seiner Studie gerade
in der Figur des Lariviere das Mißverhältnis von Vater und Sohn
exemplifiziert schen: Lariviére wird in der Tat zweimal als Retter
herbeigerufen — bei der mißlungenen Klumpfuß-Operation und
an das Sterbebett von Emma -, aber in beiden Fällen demonstriert
er nicht Macht, sondern Ohnmacht. Der psychologische Stel¬
lenwert Larivieres im Bovary-Roman gilt Sartre als retrospektive
Entmachtung des tatsächlich diktatorischen Vaters. Amery geht
es in diesem Aufsatz darum, seinem Thema entsprechend die
Mechanismen der Erzählperspektive Flauberts in der Madame
Bovary freizulegen. Im Lichte der sozialkritischen Untersuchung
sei Madame Bovary der erste Roman der Weltliteratur, der ohne
jede moralisierende Intention Vorgänge im kleinbürgerlichen
Milieu in der Perspektive einer totalen Objektivität darstelle, die
aber dann dialektisch umschlage in vollkommene Subjektivität.

Die Gestalten von der unglücklichen Emma Bovary bis zu Ne¬
benfiguren, wie dem Abbe Bournisien, stehen in ihrer Kläglichkeit
nackt vor uns, Geschöpfe, die nichts anderes sind als das, wozu die
Gesellschaft sie gemacht hat. Andererseits aber, durch das geheim¬
nisvolle Phänomen der Einverwandlung des Autors in die Geschöpfe
seiner Schöpfung wird erreicht, daß der Rezipient sich nolens volens
mit jeder von ihr identifiziert. ... Wenn überhaupt der Begriff des
Realismus in der Literatur einen guten Sinn hat, dann liegt er in
dieser Kongruenz von Objektivität und Subjektivität.

Daß ihm diese Verschmelzung in der Bovary so glänzend gelun¬
gen sei, mache Flaubert nicht nur zum Ahnherrn des modernen
Romans, sondern des ‚nouveau roman‘.

Der Literaturkritiker Améry verbeugt sich vor solchem Können.
Dem Moralisten Jean Ame£ry behagt solche Amoralitat nicht.
Seinem sieben Jahre später erschienenen Flaubert vorgreifend,
spricht er schon hier vom „armen Charles Bovary“. Diesem armen

26 _ ZWISCHENWELT

Charles Bovary verhilft Jean Am£ry mit seiner Variante des Romans
zur Sprache, die Flaubert ihm vorenthalten hatte. So wird die von
Flaubert angestrebte ‚Objektivität‘ in der Amery-Erzählung als
Mythos entlarvt. Man möchte Amery Georg Büchners Worte
in den Mund legen, die ihn zum Umschreiben des Flaubert¬
Romans bewogen haben mögen: „Man muß die Menschheit
lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen; es
darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein, erst dann
kann man sie verstehen.“ Aber das ist es ja eben, Flaubert liebt
die Menschen nicht; er will Charles Bovary nicht verstehen, er
ist ihm zu gering, er ist ihm zu häßlich. Nicht Klassendünkel
verstellt ihm den Weg zu Charles, als Landarzt hat der Mann
Emmas durchaus einen, wenn auch bescheidenen Platz in der
Gesellschaft. Vielmehr geht es bei Flaubert um einen intellektuellen
Hochmut, einen „Aristokratismus“, um wieder mit Büchner zu
sprechen, der der „schändlichsten Verachtung des Heiligen Geistes
im Menschen“ gleichkommt. Mit seiner Rettung des „einfachen
Mannes“ Charles Bovary erteilt Jean Am£ry nicht dem sozialen,
sondern dem seelischen Proletarier das Wort, dem Geprellten,
dem ‚underdog‘ schlechthin.

Amerys Anliegen - er gibt darüber selber Auskunft in dem sehr
klaren Expose über seinen Charles Bovary”* - ist doppelt. Es geht
ihm sowohl um einen sozialen als auch um einen ästhetischen
Revisionsprozeß. Einfacher ausgedrückt: Die Ehrenrettung Charles
Bovarys als Individuum und als bürgerliches Subjekt ist fällig,
erklärt Jean Améry, weil Charles Bovary von Flaubert in seiner
grotesken Tölpelhaftigkeit keine glaubhafte Figur ist, also keine
ästhetische Wahrscheinlichkeit besitzt. „Es ist schlechthin nicht
möglich“, schreibt Amery, „daß ein ... leidenschaftlich liebender
Ehemann seinen kostbarsten Besitz mit Hornochsen-Blindheit den
Liebhabern geradezu ausliefert. ... Es ist nahezu grotesk, wenn
Charles der vorgeblichen Klavierlehrerin Emmas ... begegnet,
von dieser erfährt, daß sie Emma überhaupt nicht kenne - sich

.. mit ein paar nicht einmal wohldurchdachten, lügenhaften
Ausflüchten abspeisen läßt. Ich behaupte: Es hat den Charles
Bovary Flauberts nicht gegeben. Und ich stelle - und beantworte
— die Frage, wer der wirkliche Landarzt Charles Bovary war.“

Die Erzählung Amerys setzt mit einer wörtlichen Übertra¬
gung aus Flauberts Roman ein, und zwar da, wo Charles, gleich
nach dem Todeskampf von Emma, die Bestimmungen für die
Beerdigung Emmas erläßt. Doch nimmt sich dieselbe Stelle bei
Améry wegen der anderen Erzahlhaltung ganz anders aus: Unter
der Kapitelüberschrift „Totenklage“ lesen wir: „Ich will ... Ich
werde Kraft finden ... Ich will es ...“”°. Mit dieser Erklärung, mit
dem Gebrauch der ersten Person und dem Gebrauch des Modal¬
verbs ‚wollen‘, erweist sich Charles als Individuum, das nicht nur
Wünsche äußern, sondern auch erwarten kann, daß sie ausgeführt
werden. Solchen Anflug von Selbstbestimmung hat, wie bereits
gesagt, Am£ry nicht erfunden; Ame£ry schält diese Textstelle nur
aus den Flaubertschen Platitüden zwischen Charles und Homais
heraus. Im Original kann sich Charles nur schriftlich und nur
hinter verschlossenen Türen zu sich selbst bekennen. Bei Améry
wird diese eindeutige Willenskundgebung zur Kampfansage an
den Schöpfer des Charles Bovary. Ähnlich provokativ liest sich
das Proust-Zitat, das Ame£ry, auf französisch übrigens, seinem
Charles Bovary voranstellt: „Les maris tromp&s qui ne savent rien
savent tout, tout de m&me.“ Das Proust-Zitat ist deshalb so gut
gewählt, weil es genau die Zeitspanne in der Erzählung Amerys
bezeichnet, die hier für die Kunstfigur Charles nachgeliefert,
das heißt neugeschaffen wird, die Zeitspanne nämlich, die den