nach diesem Brief verlangt. Dabei vergönnt Flaubert Charles
keinen einzigen Gedanken, geschweige denn einen rebellischen.
Diese Rebellion, die Flaubert dem betrogenen Ehemann nicht
vergönnte, liefert Amery nach. In einer virtuosen Zuspitzung
klagt der Angeklagte Bovary seine Kläger an. Die Klage, die gegen
Charles vorliegt, hat er allerdings selber fingiert: Er bezichtigt
sich des Mordes an den Liebhabern seiner Frau. Kaum hat er
die verwirrten Richter über diesen Irrtum aufgeklärt, holt er zu
neuen ‚Möchtegern-Wirklichkeiten‘ aus. Das Aufbegehren mün¬
det schließlich in die Rebellion gegen Flauberts selbstherrliches
Walten, das die Ideale der Revolution mit Füßen tritt:
Ich führe Klage, weil Sie in ihrer stupiden Eremitage nur ihre
Wörter und deren Wohllaut abhorchten, nicht aber mich sahen mit
den Augen des mitfühlenden Menschen.
Liberté: Sie verweigerten sie mir.
Egalite: Sie duldeten nicht, daß ich, der Kleinbürger, ein Gleicher
sei mit dem Großbürger Flaubert.
Fraternité: Sie wollten nicht mein Bruder sein im Elend, gefielen
sich vielmehr in der Rolle des toleranten Richters.
Meine Klage erhebe ich vor dem Tribunal der Welt gegen die ver¬
abscheuenswerte Gleichgültigkeit, mit der Sie mich am Ende weg¬
warfen.”
Kryptischer formuliert liest sich die Beschuldigung folgender¬
maßen:
Ich klage Sie an der Verletzung des Paktes, den Sie mit der Realität
geschlossen hatten, ehe Sie sich an die Niederschrift meiner Geschichte
machten: denn ich war mehr, als ich war, gleich jedem Existierenden,
der täglich und stündlich im Widerstand gegen die Anderen und die
Welt aus sich heraustritt, zu verneinen, was er war, und zu werden,
was er sein wird.”
Dieser letzte Satz postuliert in verkiirzter Form Amérys Unbe¬
hagen an dem Roman Flauberts, ein Unbehagen, das vom frühen
Sartre herkommt, der 1946 das Credo Existentialismus ist ein Hu¬
manismus verkündete. Es sind durchaus doppeldeutige Worte, die
hier zu lesen sind, denn sie richten sich sowohl an Sartre als auch
gegen ihn, sie spielen den frühen Sartre, der Améry den Lebensmut
gab, gegen den späten Sartre, der ihm diesen Mut wieder nahm,
aus. Sartre zeigt in Der Idiot der Familie mit seiner „Konstitution“
Flauberts, die er zu einer „Personalisation“ ausweitet, nicht nur,
daß Flaubert „mehr war, als er war“ (d.h. der gescheiterte Sohn
eines erfolgreichen Arztes); er zeigt auch, wie Flaubert „als Existie¬
render seinen Widerstand gegen die Anderen“ veräußert, indem
er in die Neurose flüchtet, „um zu werden, was er geworden ist“,
nämlich der Meister der Bovary. Die existentialistische Methode
macht sich Jean Améry für seinen Charles Bovary zu eigen: Auch
Améry fixiert die soziale Bedingtheit des Landarztes, indem er
seine „Konstitution“ nachzeichnet (Charbovary), und gibt mit
den inneren Monologen („Totenklage“; „Ridiculus sum“; „Der
Bürger als Liebhaber“; „J’accuse“) Charles die Chance, aus sich
herauszutreten, „zu verneinen, was er war, um zu werden, was er
sein wird“, nämlich der passionierte Liebhaber, Emma ebenbürtig.
Durch diese Metamorphose wird aus Jean Amérys Bovary ein
ganz neuer Charles, also eine autonome Erzählung. Andererseits
wird die gleiche Erzählung, vor allem durch die Essayeinschübe,
zu einer Streitschrift gegen Flaubert, zu einer Streitschrift auch
gegen Sartre.
Die Polemik gegen Flaubert ist sofort einsichtig, obwohl auch
sie erst allmählich in Améry gereift sein muß. Noch in seinem
literaturwissenschaftlichen Aufsatz von 1971 hat er den Autor
ohne Vorbehalte gepriesen. Ebenfalls rühmend wird er in einer
Schrift über Gustav Freytag“ erwähnt, und zwar hier ausgerechnet
wegen seines relativ ausgeprägten sozialen Bewußtseins. Die Ver¬
schärfung, die mit Charles Bovary in Polemik umschlägt, erfolgt
erst nach der Auseinandersetzung mit Der Idiot der Familie. Was
Sartre mit Flaubert anstellt, bewundert Améry und verwirft es
zugleich. Er bewundert es als episches Werk, als Bildungsroman
unserer Zeit, als das Produkt des Sartre, „den wir kennen seit Jahr
und Tag: der nämliche, der vor fast einem Vierteljahrhundert
sagte ‚Existentialismus ist ein Humanismus“.
Diesen aufklärerischen Ansatz übernimmt Amery für seinen
Charles Bovary. Andererseits verwirft er das Werk: Auf die 2136
Seiten Sartres antwortet Amery mit 162 Seiten. Sartres Weitläu¬
figkeit provoziert ihn zur äußersten Knappheit; der empathischen
Nachschöpfung entgegnet er mit ungehemmter Parteilichkeit.
Er weiß, daf% Sartre dieses Monument mit schlechtem Gewissen
schrieb; er weiß, daß der Schriftsteller Sartre während der Nieder¬
schrift seines Flaubert, die ihn psychisch gefangen hielt, sich mit
verbissener Hartnäckigkeit einem blinden Aktionismus verschrieb,
sich als Mann der absoluten Revolution ausgab, der selbst nicht
vor einer Politik der Gewalt zurückschreckte. Für Améry scheint
diese Unbedingtheit in Sartres politischem Gebaren der Preis zu
sein, den Sartre für sein ‚Delirium der Interpretation‘ in Der Idiot
der Familie zu zahlen hatte.
Mit Charles Bovary zieht Am£ry Bilanz. Indem er sich in den
frühen Sartre einverwandelt, reicht er seinem Lehrer dreißig Jahre
später die Hand, um sich endgültig von ihm zu trennen. Dem
Existentialismus hat Sartre mit seinem Flaubert-Roman Rechnung
getragen, nicht aber dem Humanismus. Zuviel Verständnis für die
psychischen Nöte des Großbürgers, des Opfers Flaubert, versperre
Sartre den Weg zu den sozialen Opfern in Flauberts Werk. In
seinem Alltagsleben mache sich der Siebzigjährige zum Anwalt
des Proletariats, während er den eigentlichen Möglichkeiten der
Aufklärung in einer Demokratie den Rücken kehrt; in seinem
Schriftstellerleben versage er den Unterdrückten den Dienst. Nicht
etwa, daß Sartre an Charles Anstoß nähme — ganz im Gegenteil,
seine wohlwollende Einstellung wurde schon genannt -, aber die
Problematik des bürgerlichen Subjekts, so jedenfalls wie sie sich
in Flauberts Werk darstellt, interessiert ihn nicht.
Der Angriff gegen Sartre ist also letztlich ein politischer, um
nicht zu sagen ein ideologischer. Améry verschreibt sich mit jeder
Faser den Idealen der Aufklärung“ in der Demokratie. Den Begriff
des nützlichen Staatsbürgers als potentieller Mikrokosmos dieser
Aufklärung will er in die Literatur hinüberretten. Sartre bekannte
sich seit 1968 immer deutlicher zu den Idealen der absoluten
Revolution. Je mehr sich seine politische Haltung radikalisierte,
desto esoterischer und unpolitischer wurde seine Literatur. Diese
Kluft versucht Jean Amery stellvertretend für Sartre zu überbrü¬
cken, indem er seinen Charles humanistisch aufarbeitet und ihm
einen existentialistischen Anstrich gibt.
Noch ein letztes wäre zu Charles Bovary, Landarzt. Porträt eines
einfachen Mannes zu sagen. Auch wenn dieses Buch eine Polemik
gegen Flaubert und eine Streitschrift gegen Sartre ist — es bleibt
ein betrachtlicher Rest: Der Charles, der hier spricht, der Charles,
dem zu seiner Ichfindung eigens eine Sprache erfunden wurde
— ist auch Jean Améry, der zu uns spricht, Jean Améry, der mit
diesem Buch seine letzte Klage vor dem Tribunal der Welt erhebt,
seine eigene Todesklage vorwegnimmt, seinen Freitod literarisch
inszeniert. Charles Bovary stirbt bei ihm nicht an ,gebrochenem
Herzen‘; er unternimmt Konkretes, um seinen Tod zu sichern.
Hier spricht der Sprachlose, der Heimatlose, der Außenseiter, der