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Friedhelm Kröll, Karin Stögner

Jean Amery: Lefeu oder Der Abbruch (1974)

Konfrontiert mit dem Grauen der nationalsozialistischen Ver¬
nichtungslager — es ist nicht nur Améry („An den Grenzen
des Geistes“ 1966), der die Wirklichkeitsdifferenz zwischen
Dachau und Auschwitz, zwischen Konzentrationslager und
Mordfabrik nicht verwischt wissen wollte — ist jedwede dar¬
stellende Intention vor die Frage gestellt, od eine künstlerische
Bearbeitung dieses Grauens möglich, zu begründen sei. Und
gesetzt, sie sei möglich, begründbar, dann stellt sich nicht nur
das Problem, wie über Auschwitz, sondern in einem das, wie
nach Auschwitz darzustellen sei. Rückgebunden wird die Diskus¬
sion darüber häufig an Adornos Kulturkritik. Die Totalität des
gesellschaftlichen und geschichtlichen Zwangszusammenhangs,
die er nachzeichnet, wurde im Prozess einer verkürzenden und
entstellenden Rezeption reduziert auf den aus dem Zusam¬
menhang des Textes wie des Kotextes gerissenen Fetzen, dass
nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch sei. Und
dieser Fetzen ging schließlich selbst als Erstarrter sowohl in die
Auseinandersetzung um Dichtung nach Auschwitz als auch in
diese Dichtung selbst ein.' Aus der gesamten Passage aber, so,
wie Adorno sie 1951 am Ende des Aufsatzes Kulturkritik und
Gesellschaft vorbrachte, erschließt sich eine breite kultur- und
gesellschaftskritische Perspektive:

Je totaler die Gesellschaft, umso verdinglichter auch der Geist und
umso paradoxer sein Beginnen, der Verdinglichung aus eigenem sich
zu entwinden. Noch das äußerste Bewufßßtsein vom Verhängnis droht
zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe
der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz
ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frift auch die Er¬
kenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte
zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des
Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich
aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen,
solange er bei sich bleibt in selbstgeniigsamer Kontemplation.?

Barbarisch ist nicht schlichtweg das Verfassen eines Gedichts,
sondern eine Gesellschaft und ihre Kultur, die sich nach Auschwitz
wieder konstituiert und das fortzuführen trachtet, was vor Au¬
schwitz war und dabei nicht erkennt, dass gerade diese Kultur
auch zu Auschwitz führte. Das Anknüpfen an den Status quo
ante erkennt den Bruch der Zivilisation nicht als Teil dieser Zivi¬
lisation und Kultur selbst, sondern als etwas, das als Katastrophe
aus dem Verlauf der Menschheitsgeschichte quasi herausspringt.
Die Verschränkung des Vorher und Nachher wird gekappt, sei es
durch das bloße Ausblenden und Verschweigen von Auschwitz,
sei es durch sein Ausklammern in der zuweilen ans Idolatrische
grenzenden undialektischen Betonung seiner Einzigartigkeit, in
der das Moment des Bruches total gesetzt wird. Der Zweck der
Rettung der Kultur tritt in beiden Fällen klar zutage. Gerade diese
Kultur aber barg die Möglichkeit von Auschwitz bereits in nuce.
Der Dialektik von Zivilisation und Kultur galt die begriffliche
Anstrengung Adornos; auf Auschwitz als einzigartig und doch
zivilisatorisch eingebettet reflektiert er in den Minima Moralia:

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Man kann nicht Auschwitz auf eine Analogie mit der Vernichtung
der griechischen Stadistaaten bringen als bloß graduelle Zunahme
des Grauens, der gegenüber man den eigenen Seelenfrieden bewahrt.
Wohl aber fällt von der nie zuvor erfahrenen Marter der Erniedrigung
der im Viehwagen Verschleppten das tödlich-grelle Licht noch auf die
fernste Vergangenheit, in deren stumpfer und planloser Gewalt die
wissenschaftlich ausgeheckte teleologisch bereits mitgesetzt war. Die
Identität liegt in der Nichtidentität, dem noch nicht Gewesenen, das
denunziert, was gewesen ist.’

Das Aufbrechen des geschichtlichen Kontinuums, das Walter
Benjamin am revolutionären Moment festmacht‘, eignet auch dem
äußersten Grauen. Vergangenes Leid und vergangenes Unrecht
werden im Angesicht des Äußersten quasi zitierbar und erinnernd
in die Gegenwart hereingeholt. Was Benjamin die kopernika¬
nische Wende in der Geschichtsbetrachtung nannte, nämlich
das bewusste und reflektierte Hereinholen des geschichtlichen
Gegenstandes in die Konstellation der Gegenwart und damit
seine Aktualisierung, gilt hier auch für die künstlerische und
schriftstellerische Auseindersetzung mit Auschwitz.

Ein Versuch, ein Ringen vielmehr, um Ausdruck dessen, was
sich dem vernunftvollen Nachvollzug versperrt, ist Jean Amérys
1974 erschienener Roman-Essay Lefeu oder Der Abbruch Der
Versuch gründet in der Erfahrung des durch die Anderswelt des
Vernichtungslagers zerstörten Weltvertrauens. Von hier aus er¬
scheint das Vorhaben aussichtslos. Und vorweg, das Scheitern
künstlerischer Verarbeitung dargestellt zu haben, darin liegt die
Starke des Lefeu, sein Wahrheitsgehalt. Was kann Kunst noch
zugetraut werden?

Améry setzt mit seinem Lefeu die Kunst einer Probe aus,
die zu keinem schlüssigen, schon gar nicht bündigen Resultat
führt. Das Werk ist offenkundig als brüchiges Kontinuum von
Erzählung und Essay komponiert, Abbruch und Fortsetzung in
einem. Es bewegt sich auf der Höhe der ästhetischen Ansprüche
von Stimmigkeit, die Adorno in der Denkfigur des „zerrütteten
Kunstwerks“ als der Epoche einzig angemessen geltend gemacht
und begründet hat:

Erst das zerrüttete Kunstwerk gibt mit seiner Geschlossenheit die
Anschaulichkeit preis und den Schein mit dieser. Es ist als Gegenstand
des Denkens gesetzt und hat am Denken selber Anteil; es wird zum
Mittel des Subjekis, dessen Intentionen es trägt und festhält, während
im geschlossenen das Subjekt der Intention nach untertaucht. Das
geschlossene Kunstwerk nimmt den Standpunkt der Identität von
Subjekt und Objekt ein. In seinem Zerfall erweist sich die Identität
als Schein und das Recht der Erkenntnis, die Subjekt und Objekt
einander kontrastiert, als das größere, als das moralische.

Triftiger als mit dieser Passage aus dem Schönberg-Teil der Philoso¬
‚phie der neuen Musik lässt sich der geglückte „Intellektualismus‘”,
der auf seine Weise intransigente Werkcharakter des Lefeu nicht
benennen. Der Essay hat das letzte Wort, und doch wird dem
Erzählen die Möglichkeit nicht vollends abgesprochen.