abgegeben. „Sturmzeit“ lautet der zweite Titel des Gedichts, der
Sturm steht bildhaft für die Macht der Zeit, die den einzelnen
mitreißt. Soyfer singt aber, entgegen allem ersten Anschein, weder
Lob noch Klage der Vergänglichkeit:
Der Weg ist weit
Und fern die Rast
Und Müdigkeit
Hat euch erfaßt.
Ihr wollt die Augen schließen.
Und dennoch schließt
Die Augen nicht!
Dem Sturme blickt
Ins Angesicht,
Denn ihr sollt alles wissen!"
Wissen führt am Schluß zur Erkenntnis der eigenen Verantwortung.
In etlichen für die Kleinkunstbühne bestimmten Liedern gestattet
Soyfer sich aber auch tiefste Schwarze, die erst innerhalb des Stücks
in einem späteren Songam Ende, das eine Entwicklung besiegelt,
zurückgenommen wird. Im „Lechner Edi“ verlangt die „Moritat
im Paradies“ zunächst nichts Geringeres als die Zurücknahme der
Erschaffung des Menschen, also die Entschöpfung:
Greif, o Herr, den Lehm nicht an!
Schlag Dich nicht mit eignen Waffen!
Oder wenn Dus schon getan,
Mach ihn wieder ungeschaffen!?
Das klingt sehr ähnlich wie ein Aphorismus von Emile Cioran aus
„Vom Nachteil geboren zu sein“: „Indem die Natur den Menschen
zuließ, hat sie viel mehr als einen Rechenfchler begangen: ein
Attentat auf sich selbst.“
Die Vagabundenlieder am Beginn von „Astoria“, die cher an Mat¬
thias Claudius erinnern alsan Brecht, muten ähnlich resignativ an:
Steh auf im Schein des kargen Lichts,
Du Lump auf fremder Schwelle!
Steh auf und geh und hoffe nichts,
Der Himmel wird nicht helle.“
Es sind gewissermaßen echte Rollengedichte, aus der Sicht des
Bruders unter Brüdern. Daß Soyfer Vagabunden als Protagonisten
wählt, ist nicht nur eine Verbeugung vor Nestroy und seinem
„Lumpazivabundus“, es ist auch eine — nicht parteikonforme —
Abkehr vom klassenbewuften Arbeiter und Hinwendung zum
deklassierten Außenseiter, mag auch der Appell am Schluß des
Stücks, die Vagabunden mögen sich nicht auf ein gelobtes Land
vertrösten lassen, sondern sich das jeweils naheliegende nehmen,
in Wahrheit an die Arbeiterschaft adressiert sein.
Man kann die These wagen, daß Verbot und Zensur für den
Dichter Soyfer einen Mehrwert geschaffen haben, daß die politische
Einschränkung und Knebelung eine literarische Befreiung war,
deren Tragweite durch Soyfers frühen Tod nicht mehr ermessen
werden kann.
Die Grundzüge der Soyferschen Poetik - Optimismus und Men¬
schenfreundlichkeit - bleiben seinem Werk trotzdem bis zuletzt
erhalten, auch in seinem „Dachaulied“. Soyfer war kein Opfer der
„Endlösung“, zur Zeit seiner Haft kam ein KZ-Aufenthalt noch
nicht einem Todesurteil gleich, es kam noch vor, daß man aus
Konzentrationslagern auch wieder entlassen wurde (als Soyfer im
KZ Buchenwald an Typhus starb, waren seine Entlassungspapiere
bereits ausgestellt). Auch in seinem letzten Gedicht pflegt Soyfer
die satirische Verfremdung, indem er den Hohn der Losung „Ar¬
beit macht frei“ mit gleicher Münze zurückzahlt. Auch hier ruft
Soyfer das Ideal des Menschen in Erinnerung („Bleib ein Mensch,
Kamerad‘“), auch hier ist sein Blick unbeirrt auf ein Morgen, ein
Danach gerichtet, und noch war dieser Blick nicht als illusorisch
erkennbar, noch die Länge der Wartezeit nicht abschätzbar: „Drau¬
ßen dann, wo wir uns finden, / Bist Du, Kamerad, zur Stell./ Hell
wird uns die Freiheit lachen“.'
Der Dichter Jura Soyfer war just kein Vertreter jener „linken
Melancholie“, die Walter Benjamin den linksradikalen Autoren
der Neuen Sachlichkeit, wie Kästner oder Tucholsky, unterstellte.
Ihnen warf Benjamin einen „neunmalweis“ ironischen Umgang
mit Gefühlsresten vor und eine modische Haltung „links vom
Mösglichen“, ohne Bezug zum politischen Handeln: „Nie hat man
in einer ungemütlichen Situation sich’s gemütlicher eingerichtet.“'°
Soyfer hingegen war jeder literarischen Gemütlichkeit abhold,
er verniedlichte den Sturm der Zeit nicht, sondern stemmte sich
dagegen. Er spürte und artikulierte jene „dunkle Solidarität mit
einer Ware, für die die Absatzkrise“'” sichtbar wird, die Benjamin
bei den neusachlichen Dichtern vermißte: die Solidarität mit der
Ware Mensch.
Kurzvortrag bei der Wiener Vorlesung „Zum 100. Geburtstag von Jura
Soyer. Eine Erinnerung“ am 10. Dezember 2012. Daniela Strigl,
geb. 1964 in Wien, Literaturwissenschafterin, Verfasserin u.a. von
Monographien über Theodor Kramer und Marlen Haushofer, Mit¬
herausgeberin von „In welcher Sprache träumen Sie?“, Jurorin beim
Ingeborg-Bachmann-Preis, erhielt heuer den „Alfred-Kerr-Preis für
Literaturkritik“ des „Börsenblatts für den Deutschen Buchhandel“.
1 Jura Soyfer: Das Gesamtwerk. Hg. v. Horst Jarka. Bd. 1 Lyrik. Wien¬
München-Zürich: Europaverlag 1984.
2 Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. Zit.
nach: K. Marx, F. Engels: Werke, Bd. 4. Berlin 1974, 468.
3 Soyfer, Lyrik, S. 209.
4 Vgl. Felix Kreissler: Wienerischer Humor in Jura Soyfers Zwischenrufen.
Von Heine über Nestroy zum Wiener Schlagerlied der dreißiger Jahre. In:
Herbert Arlt, Fabrizio Cambi (Hg.): Lachen und Jura Soyfer. St. Ingbert:
Röhrig 1995, 155-175, hier S. 160.
5 Vgl. Horst Jarka: Einleitung zu Jura Soyfer: Das Gesamtwerk. Bd. 2 Prosa.
Wien-München-Zürich: Europaverlag 1984, 7.
6 Vgl. E Kreissler, wie oben
7 Vgl. Horst Jarka: Einleitung zu Jura Soyfer: Das Gesamtwerk. Bd. 1 Lyrik.
Wien-München-Zürich: Europaverlag 1984, 11.
8 Soyfer, Lyrik, S. 64. „Handlee“ war eine gebräuchliche Bezeichnung für
jüdische Hausierer.
9 A.a.O., 37.
10 A.a.O., 220.
11 A.a.O., 221.
12 A.a.O., 224.
13 Emile M. Cioran: Vom Nachteil, geboren zu sein. Dt. v. Francois Bondy.
Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, 65.
14 Soyfer, Lyrik, S. 227.
15 A.a.O., S. 243.
16 Walter Benjamin zit. in: Daniela Strigl: „Wo niemand zuhaus ist, dort
bin ich zuhaus.“ Theodor Kramer — Heimatdichter und Sozialdemokrat
zwischen den Fronten. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1994, 90.
17 Zit. a.a.O., 239.