in dem die entfremdete Existenz des einzelnen im Zeitalter der
Massenarbeitslosigkeit (die betrug 1932 in Österreich 22 Prozent)
mit dem hehren Ideal konfrontiert wird:
Wir sind der Straßenstaub der großen Stadı,
Wir sind die Nummer im Katasterblatt,
Wir sind die Schlange vor dem Stempelamt
Und unsre eignen Schatten allesamt.
[J
Wir sind das schlecht entworfne Skizzenbild
Des Menschen, den es erst zu zeichnen gilt.
Ein armer Vorklang nur zum grofsen Lied.
Ihr nennt uns Menschen? Wartet noch damit?
Rund 150 Gedichte hat Jura Soyfer geschrieben, er hat sich mit
ihnen bewußt in die Tradition Heinrich Heines und Johann Nes¬
troys gestellt, aber auch auf die Zeitgenossen Brecht, Tucholsky
und Kästner reagiert. Anders als diese gilt Soyfer freilich als ein
ausschließlich politischer Dichter. Liebesgedichte, wie wir sie im
Zeichen der Neuen Sachlichkeit kennen (und wie sie heute, in
Zeiten politischen Ennuis, etwa den Lyriker Brecht im kollektiven
Gedächtnis bewahren), sind von Soyfer nicht erhalten.
Soyfer schrieb Kampf- und satirische Spottlieder, gereimte Kom¬
mentare zum politischen Geschehen und dessen medialer (auch
photographischer) Vermittlung respektive Verzerrung, aber auch
massenwirksame Parolen für die Ringstraßen-Aufmärsche der So¬
zialdemokratie. Die erste Gedichtveröffentlichung des Maturanten
galt dem Typus des verknöcherten Gymnasialprofessors, mit 19
wurde Soyfer regelmäßiger Mitarbeiter der „Arbeiter-Zeitung‘“,
die „Zwischenrufe links“ nahmen Austrofaschisten wie National¬
sozialisten aufs Korn, den Ständestaat wie Nazideutschland, Kapi¬
talismus, Junkergeist, Militarismus. Beinahe jede Woche erschien
ein Gedicht, später auch in der Wochenillustrierten „Kuckuck“.
Nach dem Bürgerkrieg des Jahres ‚34 und dem darauf folgenden
Verbot aller sozialdemokratischen Organe und seiner Annäherung
an die ebenfalls verbotene kommunistische Partei wich Soyfer in
den Untergrund von Kabarett und Kellertheater aus, die Couplets,
die er für seine Stücke verfaßte, zielten nun, auch zensurbedingt,
weniger ad personam, bezogen allgemeiner Stellung.
Jura Soyfer hat angeblich leidenschaftlich gern gesungen, wenn
auch falsch.‘ Er schrieb seine Lyrik (wie auch seine Dramen) — im
Gegensatz zur Prosa — ausgesprochen schnell.’
Die Distanz des Satirikers zu allen Parteien und ihren Führern, die
dialektische Auseinandersetzung mit Ideologie, wie Heinrich Heine
sie praktiziert hatte, konnte ein Dichter, der sich als Propagandist
verstand, nicht einhalten.° Angesichts des in Soyfers Gedichten
häufigen Kippeffekts zwischen Satire und Appell, pessimistischer
Beschreibung und hoffnungsfrohem Ausblick hat Horst Jarka
vermutet, Soyfers „Formeln der Zuversicht“ sei ein guter Schuß
Ironie beigemengt: Bei der relativierten Ermunterung zum Los¬
schlagen „Heut‘ nicht mehr? Dann morgen!“, klinge das „Morgen,
morgen, nur nicht heute“ unweigerlich mit.’
Soyfers polemische Schärfe und sein beträchtlicher Witz speisen
sich aus dem Spiel mit Personen- und Ortsnamen, Bildern und
Klischees. In dem Rollengedicht „Hitler stellt sich vor“ porträtiert
Soyfer Hitler 1932 als eine Art Bandlkramer der Gesinnung und
bedient sich kurzerhand des klischierten Bildes vom jüdischen
Hausierer:
Haben Sie vielleicht von bessern Kreisen
Abgelegten Geist samt Uniform?
Her damit! Ich kauf zu besten Preisen,
Mein Bedarf ist nämlich ganz enorm!
Ich kaufe jede Pofelwar‘,
ich kauf Gesinnungen in bar!
Hier Firma NSDAP —
Handlee! Handlee! Handlee! Handlee®
Der Versuch, Hitlers vorgeblich hehre Absichten mit der den Juden
nachgesagten Geschäftstüchtigkeit zu diskreditieren, gipfelt in der
Umwertung der wenig respektablen Berufsbezeichnung, die auch
zum Schimpfwort taugt:
Ja so ein kleiner Binkeljud,
Der macht nicht viel Profit:
Glauben Sie mir, man verdient erst gut
Als Binkelantisemit!
Rollengedichte hat Soyfer einige geschrieben, doch anders als
sein langjähriger Parteigenosse Theodor Kramer war er nicht
auf die empathische Versenkung in individuelle Schicksale aus;
nicht dem einzelnen eine Stimme zu geben, war seine Absicht,
sondern dem Kollektiv — und über das Kollektiv den einzelnen
in der Masse anzusprechen und mitzureißen. Auch und gerade
als Lyriker ist Soyfer immer am didaktischen Erfolg interessiert.
So hat Soyfers Rollenlyrik etwas Demonstratives, mitunter auch
Plakatives, zumindest in der Schlußwendung, wie im „Song des
SA-Proleten“, in dem über die Einfühlung in den zum Bettler he¬
runtergekommenen Arbeitslosen die Versprechungen der braunen
Verführer als leer entlarvt werden sollen. Am Ende aber fällt das
Ich aus der Rolle, nämlich der des Opfers, weil sein Autor sich
die Stellungnahme nicht verkneifen kann: „Ich weiß nicht, wohin
sie uns führen, / Eins weiß ich nur: daß ich ein Henker bin,/ Ein
Henker — Heil und Hurra!“?
Ein neuer, volksliedhaft schlichter Ton findet sich in den Songs der
Stücke, zum Beispiel in „Wanderlied der Zeit“ aus „Der Lechner
Edi schaut ins Paradies“:
Der Weg ist weit
Und fern die Rast.
Es pfeift die Zeit,
Vom Sturm erfaßt,
Dir gellend um die Ohren.
(..)
Was Du getan,
Geht über Bord,
Der Hurrikan
Reifst alles fort,
Er reifst dein Kleid in Fetzen.
Was rings geschieht,
Ist schnell verweht,
Hörst das Gebet
Kaum im Vorüberhetzen."
Hier wird das Wirken einer Zeitmaschine beschrieben, doch zugleich
auch ein Kommentar zur Zeit, zur Gegenwart der Zeitgenossen