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Editorial

Leicht veränderter Text der Rede, die Konstantin Kaiser am 17.
Juni 2013 im Rahmen der Epstein-Vorlesungen auf Einladung der
Präsidentin des österreichischen Nationalrates, Mag.“ Barbara Pram¬
mer, hielt. Die einleitenden Worte Alexander Emanuelys und die
Reden von Irene Suchy und Marcus G. Patka finden sich auf den
folgenden Seiten.

Die Biicher meiner Eltern in Innsbruck waren auf das Wohn¬
zimmer und das sogenannte Nordzimmer verteilt. Im helleren
Wohnzimmer fand sich die neuere politische und zeitgeschichtliche
Literatur, darunter die Studien einer damals noch anriichig neuen
Wissenschaft: der Politologie. Im kühleren Nordzimmer hauste
die Belletristik; da aber mussten sich die deutschen Klassiker,
von Schiller bis Heine, in einem höchst internationalen Umfeld
behaupten. „Das Sklavenschiff“ des geheimnisumwitterten B.
Traven stand unweit von Egon Erwin Kischs „Entdeckungen
in Mexiko“ neben einer frühen sozialanthropologischen Studie
über das Leben einer armen mexikanischen Familie. Kisch und
"Iraven waren beide Fxilierte, im Unterschied zu Federico Garcia
Lorca, aus dem Spanischen übersetzt von dem deutschen Hitler¬
Flüchtling Heinrich Enrique Beck. Garcia Lorca flüchtete nicht
wie 500.000 andere spanische Republikaner vor dem Terror der
Faschisten, er wurde schon zu Anfang des Bürgerkriegs ermordet.
Die Vorgeschichte und Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs
machte mir die Autobiographie Arturo Bareas vertraut, erschienen
im Wiener Europaverlag, „La forja de un rebelde“ (Die Schmiede
eines Rebellen), deutsch: „Hammer oder Amboß sein“.

Seltsam war eine in japanischer Broschur gebundene Novel¬
lensammlung, die von den unerhörten Leiden und opfervollen
Kämpfen chinesischer Landbewohner gegen räuberische Militär¬
machthaber und japanische Invasoren berichtete. Konventioneller
gebunden, nämlich mit Fadenbindung und Lesebändchen, war
der dicke Band mit den Erzählungen Lu Xuns unter dem Titel
„Die Reise ist lang“. Lu Xun, der 1936 in Shanghai seiner Tuber¬
kulose erlegene Gelehrte und Schriftsteller, hatte innerhalb Chinas
immer wieder Zuflucht suchen müssen vor den Nachstellungen,
ein Binnenexilant gewissermaßen, gleich ungezählten anderen
in dem riesigen, zerrissenen Land. Milovan Djila® Memoiren
hingegen erinnerten an den Partisanenkrieg in Jugoslawien und
ebenso an die „Neue Klasse“, die sich nach der Befreiung zu dik¬
tatorischer Herrschaft und neuer Ausbeutung formiert hatte. Ein
Buch eines belgischen Autors vergegenwärtigte das Leben und
den Widerstand in dem von Nazideutschland besetzten Belgien.
„Eine Handvoll Brombeeren“ bot mir Ignazio Silone, dessen
Roman „Fontamara“, entstanden im Exil in der Schweiz, eine
ganze Generation deutschsprachiger Exilierter beeindruckte. Und
Upton Sinclairs „Jimmie Higgins“, übersetzt von der im Exil in
England verstorbenen Hermynia Zur Mühlen, protestierte vergeb¬
lich gegen die US-amerikanische Intervention im revolutionären
Rußland von 1919.

Kurz zusammengefasst: Es entstand in dem lesenden Knaben,
der ich war, ein grandioses Bild eines auf vielen Schauplätzen und
von Menschen verschiedenster Herkunft geführten weltweiten
Kampfes gegen Ausbeutung, Unterdrückung, Diskriminierung.

4 ZWISCHENWELT

Es war wie ein großes Anbranden gegen die Grundfesten von
Kolonialismus und brutaler Machtausübung und gegen eine Ei¬
gentumsordnung, in der Mord verjährt, aber Besitz unsterblich ist.
Höhepunkt dieser Kämpfe war die Niederwerfung des deutschen
und japanischen Faschismus, aus dem eine neue Weltordnung
hervorgegangen zu sein schien — mit der Gründung der Vereinten
Nationen, der Menschenrechtskonvention und der Ächtung des
Völkermords.

Was ich damals nicht wahrnahm, nicht wahrnehmen konnte,
war die Bedeutung des Exils, oder vielmehr der Exile, die all die
Handlungen des Widerstandes begleiteten, die die Ideen und die,
die sie dachten, vor der Auslöschung retteten und oft Ausgangs¬
punkte eines erneuten Widerstandes waren. Man könnte das 19.
Jahrhundert als ein Jahrhundert der Migrationen ansehen, und
das 20. als ein Jahrhundert der Vertreibungen und der Exile. Viel
später erst wurde mir klar, daß auch Arturo Barea seine Auto¬
biographie im Exil geschrieben hatte, unterstützt von seiner aus
Österreich geflüchteten Frau Ilse Kulcsar. Näher noch rückt das
große internationale Geschehen an das anscheinend so marginale
österreichische Exil heran, wenn man bedenkt, daß der Übersetzer
von Bareas Buch Joseph Kalmer hieß, der sich dabei von einem
blutjungen Schriftsteller namens Erich Fried helfen ließ. Auch Lu
Xuns Erzählungen waren von Joseph Kalmer übersetzt — „Beppo“
nannten ihn seine Freunde, von denen einer seiner besten ein
gewisser Theodor Kramer war.

Und umgekehrt hatte Lu Xun, der dem Vernehmen nach
Deutsch konnte, eine Erzählung Hermynia Zur Mühlens, „Das
Schloß der Wahrheit“, ins Chinesische übertragen und 1931 in
Shanghai eine „Liga linker Schriftsteller“ gegründet, die 1933
lautstark gegen die Bücherverbrennungen in Deutschland protes¬
tierte. Ein anderer Fxilant, der österreichische Arzt Fritz Jensen,
der in China überlebt hatte, wurde zu einem der ersten Übersetzer
Nazim Hikmets, des Begründers der modernen Dichtung in der
Türkei. Jensens „Februarlegende“ findet sich, ohne Nennung des
Verfassers, in literarischen Anthologien zu den Februarkämpfen
1934 in Österreich.

Im jahrzehntelangen Dialog mit den Exilierten, in der Erforschung
des Exils, habe ich auch jenen Standpunkt erst begreifen müssen,
den Berthold Viertel, sprechend für die als Juden Verfolgten, 1942
in New York formulierte:

„Der hier spricht, wurde von den Nationalsozialisten erst in der
Erziehungsanstalt eines Konzentrationslagers pädagogisch behan¬
delt, dann nach Polen abgeschoben, schließlich — ein stammelndes
Gespenst — vergast. — Daß es nicht tatsächlich geschah, ist einzig
und allein die Folge einer rechtzeitigen Ortsveränderung. Eine
solche historische Erledigung ist — auch wenn das Individuum
verschont blieb — weder etwas Unwirkliches, noch etwas Zufäl¬
liges. Sie trifft und betrifft den Typus ...“ Also: Es ging hier in
allererster Linie nicht um den Befreiungskampf, sondern ums
nackte Überleben. Und auch: Es geht nicht nur um die gro߬
artigen Leistungen Exilierter, sondern zugleich um den riesigen
Verlust. Und weiterhin darum, sich nicht damit abzufinden, nicht
beizugeben.