Kriegsveteran lieber in Riga geblieben wäre. Die Frauen folgen
in dieser patriarchal geprägten Welt ihren Ehemännern. In Rom
—vor allem in Ostia und Ladispoli, den beiden Außenbezirken
am Meer — versuchen sie und Tausende weitere „Russen“ durch
Schwarzarbeit und Kleinhandel iiber die Runden zu kommen.
Bis die ersehnten Einreisevisa nach Kanada, in die USA oder nach
Australien eintreffen, vergehen Monate. Die Unterstiitzungen
durch jüdische Organisationen reichen kaum zum Überleben.
Wer nicht in großer Menge russische Souvenirs für den römischen
Schwarzmarkt aus der Sowjetunion über die Grenze geschmuggelt
hat, wer keine Arbeit findet und keine hilfsbereiten Freunde hat,
muss hungern. Kaum der sowjetischen Bürokratie entronnen, sind
die Emigranten in der „freien Welt“ sogleich mit Einreisebestim¬
mungen, Formularen und Hindernissen aller Art konfrontiert.
Die Krasnanskys - soviel sei verraten — sind keine besonders
sympathische Familie. Karl, ein Zyniker und Geschäftemacher,
fühlt sich im kriminellen Milieu des Schwarzmarktes wohl. Alec ist
unreif, innerlich zerrissen und nur selten fähig, Verantwortung zu
übernehmen. Seine Frau Polina ist kalt und in den entscheidenden
Momenten ihres Lebens auf eine fatale Weise selbstdestruktiv.
Samuel, Jahrgang 1913, war schon als junger Mann Kommunist.
Fünfzig Jahre später glaubt er, nun Emigrant und somit „Landes¬
verräter“, immer noch, die Sowjetunion sei das beste Land der
Welt. Während der Zeit des Stalinterrors stand er auf Seiten der
Täter und gehörte 1940 zu jenen, die Lettland sowjetisierten.
Die Krasnanskys und eine Reihe von Nebenfiguren - allesamt
russisch-jüdische Emigranten, von denen jeder seine eigene tragi¬
sche, witzige oder absonderliche Lebensgeschichte hat — werden
einfühlsam und mit trockenem Humor beschrieben. Jede Figur
trägt unverkennbare individuelle Züge und ist zugleich auf ihre
eigene Weise exemplarisch, denn alle handelnden Personen im
Bezmozgis’ kleinem Welttheater, dem das Zuwandererghetto im
Rom der Siebzigerjahre als Kulisse dient, sind Produkte des repres¬
siven sowjetischen Systems, dessen Ideologie zu diesem Zeitpunkt
längst zur Heuchelei verkommen ist. Wenn aber die ofliziellen
Nahid Bagheri-Goldschmied
Sprich mir nicht von der Angst
Gedichte
Beim Zwischenwelt-Fest am 20. Juni 2013 stellte N. Bagheri-Gold¬
schmied den persischen Dichter und Liedermacher Fereydoun Far¬
rokhzad vor, und Dagmar Schwarz las die von Bagheri-Goldschmied
übersetzten Gedichte Farrokhzads; sie sind bereits in ZW Nr. 1/2013
erschienen. Für den Schwerpunkt „Die Internationalität des Exils“ hat
Bagheri-Goldschmied einige ihrer eigenen, von ihr neu übersetzten
Gedichte zur Verfügung gestellt.
Von Bagheri-Goldschmied erscheint im Herbst 2013 im Driesch
Verlag auch eine zweisprachige Anthologie österreichischer Gedichte
der Gegenwart mit persischer Übersetzung. Sie arbeitet an dem Roman
„Weiße Handschuhe“ und an einer Anthologie moderner persischer
Gedichte in deutscher Übersetzung.
Ihr 2009 im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft erschienener
Roman „Chawar“ wird demnächst wieder auf Persisch erscheinen.
Ebenfalls über die Theodor Kramer Gesellschaft kann ihr Lyrikband
„In der Fremde“ bezogen werden.
Regeln ständig gebrochen werden und alles, was geglaubt werden
soll, zur leeren Hülse wird, während in Wirklichkeit Gewalt und
Zynismus das Leben bestimmen, kann nur ein Gegenmodell, ein
alternativer Glaubensansatz, als Rettungsanker dienen. Einigen
gelingt das. Doch die Krasnanskys sind weder Zionisten oder
überzeugte Demokraten, noch sind sie religiös oder besonders
moralisch. Mit Ausnahme von Samuel, der mit Abstand span¬
nendsten Figur des Romans, haben die Krasnanskys keine aus¬
geprägten Überzeugungen oder Visionen für die Zukunft. Sie
sind in erster Linie an sich selbst interessiert. Zwar finden sie sich
ganz gut zurecht, aber dennoch keinen inneren Halt im Leben.
Und sie glauben, die Entscheidung zur Emigration sei ihre eigene
gewesen, während es doch das kommunistische Regime gewesen
war, das die Rahmenbedingungen ihres Lebens so arrangiert hatte,
dass sich die Entscheidung zur Auswanderung fast zwangsläufig
ergeben musste...
In Ostia und Ladispoli leben die Auswanderer in einer Zwi¬
schenwelt. Sie sind abgereist, aber noch nicht angekommen. Den
Reichtum des Westens, den sie bestaunen, können sie sich nicht
leisten. Mit den Einheimischen findet echte Kommunikation
nur selten statt. Zu groß sind die sprachlichen, vor allem aber die
kulturellen Barrieren. Was sie in der „freien Welt“ erwartet, sind
andere russische Juden. Sie alle spiegeln die sowjetische Gesell¬
schaft wider, nur dass hier, unter den speziellen Bedingungen der
Emigration, vieles noch bedrückender wirkt und brutaler abläuft
als in der alten Heimat. Dabei wünschen sich die Menschen nichts
sehnlicher, als das Alte hinter sich zu lassen.
In „Die Freie Welt“ werden russische und angelsächsische Er¬
zähltraditionen wunderbar verbunden — die Liebe zum Detail, die
behutsame, psychologisch glaubwürdige Zeichnung der Figuren
und die Leidenschaft, mit welcher der Erzähler, trotz des scheinbar
zurückhaltenden, fast sachlichen Tons, an seinen Stoff herangeht.
David Bezmozgis: Die freie Welt. Roman. Aus dem Englischen von
Silvia Morawetz. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2012. 350 5.
Sprich mir nicht von der Angst
Wie staunenswert!
Der Holzwurm Angst
bleibt allein
er atmet nicht mehr
und benagt nicht mehr
die Scheidewand der Gedanken, wo die Gazelle Liebe
leicht und graziös einherschreitet
die grünenden Wälder der Zivilisation
durchquert
und bei jedem Stehenbleiben
um frischen Atem zu holen
den Duft der menschlichen Wunder spürt