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Fenstergauben enigegen, „Augen der Stadt“ werden sie genannt. Manche glänzen, viele sind blind, andere eingestochen. Auf dem Gehsteig liegen ausgestreckt die Beine eines Bettlers, der im Schatten an einer Hausmauer lehnt. Die Passanten steigen darüber hinweg. Selten aber doch hin und wieder fallen jemandem dabei ein paar Lei aus der Hand. Cisnädioara, Michelsberg, 1999. Ein Haus, ein Hof, ein Brunnen, ein Seil, ein Eimer, eine Blechbadewanne in der Sonne. Darin planscht ein kleines Mädchen. Im Wasser, das aus dem tiefen Brunnen gezogen wurde, schwimmen verblasste Lindensamenblätter. Manchmal füllen die Eltern und die Kinder emaillierte Tassen, Töpfel genannt, und überschütten einander im Spaß, so heif ist der Hochsommer. Vor dem Hofior wuseln schwarze, zerzauste Welpen herum, deren Fell voller Flöhe ist. Das Mädchen und seine große Schwester streicheln die Hunde dennoch und wollen sie mitnehmen, nach Hause, zumindest einen. Die Eltern wollen das lieber nicht. Ich war noch in der Volksschule, da brachte mein Vater eine Videokassette mit nach Hause. Auf der Schachtel stand in fetten Lettern „Animal Farm — Aufstand der Tiere“ über dem gezeichneten Brustbild eines Schweins im Anzug. Trotzdem oder eben weil das Schweinegesicht von einer bösartigen Grimasse verzerrt war, freute ich mich auf einen lustigen Kindertrickfilm mit vielen Tieren. An ihnen fehlte es darin tatsächlich nicht: Schweine, Schafe, Kühe, Pferde, Esel, Hunde, Hühner - alle Bauernhoftiere waren da. Aber obwohl es zwischendurch ganz gut für sie ausgesehen hatte, kämpften und schleppten sich die meisten von ihnen durch einen langen Film mit ergreifender Musik, in dem es nur selten etwas zum Lachen und umso öfter Blutlachen zu schen gab. Ich war schockiert vom Ernst der Geschichte. Es empörte mich, dass der Eber Napoleon so vielen anderen Tieren ein derart tristes Leben bereitete und dies von den anderen Schweinen auch noch geduldet und unterstützt wurde. Zwar siegte schließlich die Gerechtigkeit, doch war der Film bis in die letzten Bilder düster, sodass ich traurig blieb, anstatt Erleichterung zu verspüren. Meine Sorge galt der Zukunft jener mageren Tiere, die auf den Trümmern der Schweineherrschaft standen, derer sie sich soeben endledigt hatten. Noch ohne es benennen zu können hatte ich eingeschen, dass die Geschichte sich wiederholen kann, dass manche nicht aus den Fehlern anderer lernen, wenn ihnen Gier, Neid und der Glaube, etwas Besseres zu sein, die Sicht versperren. Ich weiß nicht, weshalb ich damals die Zeichentrick-Adaption des Romans von George Orwell — erstmals ausgestrahlt im Jahr 1954 - zu sehen bekam. Ob meine Eltern mir damit zu verstehen geben wollten, was ich anhand des Filmes tatsächlich verstand? Kurze Zeit später erzählten sie meiner Schwester, die soeben „Animal Farm“ gelesen hatte, dass die Lektüre oder der Besitz dieses Buches und anderer Bücher des Autors in Rumänien unter Ceausescu verboten gewesen waren, da das darin Beschriebene den Vorgängen und Zuständen im Land zu schr ähnelte. Sie selbst hätten früher die Bücher gelesen, mitunter aus diesem Grund, meinten die Eltern. Ich hörte aufmerksam zu und erinnerte mich dabei an jene Geschichten, die ich über den Alltag im rumänischen Kommunismus gehört hatte. Dabei erkannte ich die Parallelen zu der von Schweinen regierten Farm und machte mir einfach, was mir bis dahin als kompliziert erschienen war. Ceausescu und seine Securitate bekamen für mich endlich ein Gesicht: Auf den leeren Hals des Diktators setzte ich vorerst den braun-rosafarbenen, hässlichen Schweineschädel Napoleons, und die Geheimpolizei stellte ich mir als ein ihm ergebenes Rudel von anfangs vielleicht unschuldigen, aber durch gezielte Abrichtung scharf gewordenen schwarzen Hunden vor. In den folgenden Jahren verschlang ich die deutschen Übersetzungen von Orwells Büchern „Animal Farm“ und „1984“. Einerseits las ich sie so, als würden sie von Rumänien unter Ceausescu handeln, anderseits, als würden sie Dinge beschreiben, die gegenwärtig und nicht allzu fern von mir oder sogar in meiner unmittelbaren Nähe vor sich gingen. Dabei hatte ich immer das Gefühl etwas Verbotenes zu tun oder zumindest etwas von bestimmten Menschen in dieser Gesellschaft Unerwünschtes. Hosman, Holzmengen, 2004. Ein Mädchen steht in einem Hinterhof vor dicht nebeneinander aufgereihten Plumpsklos und sticht seine Augen in den Himmel, der vor lauter Sternen mehr weiß als schwarz scheint. Ein besonderer Anblick für ein österreichisches Stadtkind. Beängstigend für so ein Kind oder seine Schwester, nach Einbruch der Dunkelheit alleine aus der ebenso großen wie leeren Jugendherberge zu treten und mit einer Taschenlampe durch den weitläufigen Garten zu tappen, um die Notdurft zu verrichten. Die Familie bestreitet den letzten Ausgang des Tages daher stets gemeinsam. Dem Mädchen ist er diesmal wohl am wenigsten dringend gewesen, es steht schon wieder in der unbedachten Nacht und hält Ausschau. So ist eine der vier Plumpsklokabinen leer, die Türe hängt offen in den Angeln. Die anderen drei sind abgeschlossen, dahinter Vater, Mutter und Schwester. In die grauen Bretter der Türen sind finster blickende Herzlöcher geschnitzt. Es gibt kein Licht, Dunkel wächst unter den Füßen. Durch das kühle Gras wedelt ein schwarzer Hund, unsichtbar. Seine Augen leuchten türkis, wenn er nach oftmaligem Rufen und Pfeifen in den Lichtkegel der suchenden Taschenlampe tritt. Im Garten der Jugendherberge steht ein großes, braunes Pferd und keiner weiß wozu. Vielleicht ist es eines jener Pferde, welche vor die Fuhrwerke gespannt werden, die sich hier die Straßen mit den Autos teilen. Das Pferd frisst Gras und schaut zwischendurch seine Gäste an. Um das Pferd herum, nur bloß nicht hinter dem Pferd, steht die vierköpfige Angst vor Pferden. Ein fünfter Kopf, der dem Hund gehört, versucht sich mit dem Hengst anzufreunden, gibt dies aber bald auf und gesellt sich zu den anderen vieren. Der Garten liegt hinter einer niedrigen Steinmauer mit Blick auf die staubige Dorfstraße. Darauf kehren jeden Abend lautstark die Herden von Kühen und Büffeln von der Weide in ihre jeweiligen Ställe zurück. Einer Kuh gerät ihre Heimkehr zu einem freudigen Galopp durch das Hoftor ihres Bauern. Vier Köpfe ragen über die Mauer, sehen das und lachen. Ein fünfter bellt daneben. Auf einem Spaziergang begegnet die Familie einem alten Eber, der sich vor dem Tor eines hohen Lattenzauns sonnt. Obwohl der Eber nicht so wirkt, als könnte er seinen Körper jemals wieder von der Staubstraße erheben, macht sich mit seinem Anblick zumindest in einem der Köpfe Angst vor dem Tier breit. Der schwarze Rüde nähert sich währenddessen misstrauisch und mit hoch erhobenem Schwanz dem dicken, rosig-schlammigen Eber, der nicht einmal mit den Ohren zuckt, welche seine faltigen Augen beschatten. Heute frage ich mich: Wie genau muss ein Kind eigentlich wissen, woher seine Eltern stammen (und deren Eltern und deren Eltern wiederum...), aus welchem Land zu welcher Zeit, aus welchem Kulturkreis unter welchen Umständen? Oft kommt es ohnehin nicht um das bisherige Leben und Erleben seiner Vorfahren herum, weil es durch das Verhalten, die Sprache und die Erzählungen der September 2013 25