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kein Glasdach, sagt ex, als ich mich im Innenhof umschaue, sondern
Kunststoff, damit im Brandfall der Rauch sofort abziehen kann. Im
Sommer ist es schon sehr warm. Überall an den Wänden stehen
Schautafeln und Vitrinen, und auf dem Dach der Portierloge ist
ein plakatgroßes Schwarzweißfoto angebracht: Deportierte, die
aus einem Viehwaggon im Hintergrund klettern und das Bild
füllen, Männer und Frauen mit Kindern: Hauben, Kopftücher,
Mützen, Hüte. Die Rückseite der Loge bedeckt eine Landkarte,
die alle Deportationswege von Wien zeigt, und ein Verzeichnis

der Zielbahnhöfe.

AUSCHWITZ Auschwitz war für mich nur ein Bahnhof, hat
der Kärntner Franz Novak gesagt, der als Transportoffizier Adolf
Eichmanns ftir den Tod von einer Million Juden verantwortlich
war, wie Simon Wiesenthal 1995 im Interview mit dem FOCUS
Magazin sagt. Es gab drei Prozesse gegen Novak, er wurde schließlich
zu sieben Jahren Haft verurteilt, nach sechs Jahren entlassen. Für
jedes Opfer büfste er gerade mal drei Minuten ...

SABOTAGE Das Durchschneiden von Bremskupplungsschläu¬
chen, das Streuen von Sand in die Achsenlager der Waggons,
das Verstopfen der Schmierbüchsen der Lokomotiven — auch
wenn Sabotageakte an den Eisenbahnanlagen weitgehend erfolg¬
los waren, hat die Ostmark im Vergleich zum Altreich, wie das
Reichssicherheitshauptamt (RSHA) 1941 schreibt, in sabotage¬
polizeilicher Hinsicht ein größere Rolle gespielt, das Entfernen und
Vertauschen der Wagenbezettelung, um die Waggons zu anderen
Zielbahnhöfen zu schicken, oder die Irreführung der Dienststellen
durch fingierte Telefonate, Anweisungen und Telegramme.

VERDRÄNGUNG Der Umschlag des Ausstellungskatalogs der
ÖBB zeigt ein unterbrochenes Gleis, dessen Lücke der Titel füllt:
Verdrängte Jahre.

AUSSETZEN DER ZEIT Um den Titel seiner Autobiographie
zu verstehen, muß man den ganzen Lanzmann lesen, bis zur
vorletzten Seite 666, wo Der patagonische Hase als Sinnbild der
Vergegenwärtigung beschrieben wird, und die Unterbrechung
des inneren Zeitsinns, den die Arbeit an Shoah bewirkt hat - ein
Film ohne Archivmaterial und ohne individuelles Schicksal, wie
Claude Lanzmann mehrmals sagt - er hat seine Erinnerungen nicht
geschrieben, sondern diktiert, mit langen Nachdenkpausen - er
bedankt sich im Vorwort bei seiner Autorin Juliette Simone für
ihre unendliche Geduld - er selbst hat 12 Jahre gebraucht, um
diesen Film zu realisieren, der kein Film über die Shoah sein sollte,
sondern die Shoah selbst — dabei hat die Zeit für ihn irgendwann
aufgehört zu vergehen.

TREBLINKA Nach vier Jahren Recherche und Interviews mit
Überlebenden in aller Welt, nur nicht in Polen, das er als geo¬
grafisches Zentrum der Vernichtung gemieden hat, fährt Claude
Lanzmann nach Treblinka. Als er das Ortsschild sieht: TREB¬
LINKA, ist plötzlich alles klar: Der Ort existierte, wagte zu exis¬
tieren, wie er sagt. Das kam mir unmöglich vor, das konnte nicht
sein, daß das Unaussprechliche einen Ort hatte, der wirklich war.
TREBLINKA stand auf dem Bahnhofsgebäude und darunter
war ein Transparent angebracht, auf dem in Polnisch Nie wieder
stand, während Züge vorbeifuhren, Personenzüge anhielten und
wieder abfuhren, während auf dem Abstellgleis Güterwaggons
darauf warteten, den Dienst wieder anzutreten. Der Umschlag

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des Mythos ins Reale, sagt er, traf mich wie ein Blitz und fegte
mein Wissen hinweg, zwang mich, wieder bei null anzufangen.
Die Kirchenglocken schlagen Mitternacht, als er mit seiner Dol¬
metscherin bei dem Lokomotivführer anklopft, der die Todeszüge
gefahren hat, und Henrik Gawkowski ist nicht verwundert, nach
über 30 Jahren gefragt zu werden - ich war der erste Mensch,
der ihn befragte, sagt Lanzmann -, wie er die Waggons an die
Rampe geschoben hat - nicht gezogen, sondern geschoben. In
diesem Moment wird Claude Lanzmann klar, daß er mit den
Dreharbeiten beginnen muß, bevor alles gesagt ist, bevor sich die
Zeugen wiederholen und er selbst zum Schauspieler wird, weil
er nicht mehr fragt, sondern nur vorgibt zu fragen, weil er schon
die Antworten kennt, alle Details: daß Henrik Gawkowski die
Waggons mit seiner Lokomotive schob, nicht zog. Und Claude
Lanzmann läßt ihn noch einmal für den Film die Lokomotive
fahren, 1978 gab es noch Dampflokomotiven, wie sie 1942 im
Einsatz waren. Wir hören das Stampfen und Pfeifen und sehen
Kopf und Schulter Gawkowskis, der sich aus dem Führerstand
lehnt, wir schen Laubbäume, Gras und einen Gehweg entlang
der Gleise, jetzt zeigt Gawkowski sein Profil, jetzt schaut er uns
an: Er schaut kurz in die Kamera, dann auf den Boden, in Fahrt¬
richtung und wieder zurück, während der Zug ein unleserliches
Bahnhofsschild passiert, ein Bahnhofsgebäude und mit einem
Zischen vor TREBLINKA hält: Henrik Gawkowski schaut in
alle Richtungen, bevor er mit dem Daumen der rechten Hand,

die ein Taschentuch umklammert hält, einen Strich über seinen
Hals zieht, drei Mal.

Lucas Cejpek, geb. 1956 in Wien, freier Schrifisteller und Regisseur.
Arbeitet an einem Wörterbuch eines einzigen Wortes: UNTERBRE¬
CHUNG, das im Frühjahr 2014 im Sonderzahl Verlag erscheint.