Judith Aistleitner, Marianne Windsperger
Weiterleben in den Gedichten
Die Poesie der Sonja Jaslowitz
Wie Strandgut werden Überlebenszeugnisse— Alben, Collagen, Briefe,
schwer entzifferbare Manuskripte — aufgelesen und ob der Lesbar¬
keit ihrer Botschaft und Glaubwiirdigkeit unsicher von einem zum
nachsten gereicht.'
Bruchstiicke einer Biographie
Als die Mutter von Sonja Jaslowitz im Jahr 1946 ihren Sohn Harry
Jarvis in London wieder trifft, hat sie im Gepäck die Gedichte,
die Sonja im Ghetto von Tiraspol in den Jahren 1942 bis 1944
verfasst hat. Sonja und ihr Vater haben den Krieg nicht überlebt.
Heute liegen die Gedichte Sonja Jaslowitz in einer maschinge¬
schriebenen Version in Yad Vashem.
Sonja wird 1927 geboren, sie verbringt die Jahre ihrer Kindheit
und Schulzeit in Czernowitz. Ihr Bruder Harry geht 1937 nach
London. Der Kontakt zur Familie bricht in den Kriegsjahren
ab. Im Jahr 1941 okkupiert Rumänien die Nordbukowina und
somit auch die Stadt Czernowitz. Die Rumänisierungspolitik, die
bereits 1919 begonnen wurde, wird fortgesetzt. Für die jüdische
Bevölkerung wird ein Ghetto eingerichtet und die Deportationen
in die transnistrischen Lager beginnen. Sonja kommt zusammen
mit ihren Eltern in das Tiraspoler Ghetto. Als die Rote Armee sich
1944 der Front nähert, lässt die rumänische Verwaltung das Ghetto
auf. Die Insassen, unter ihnen Sonja und ihre Eltern, schlagen
sich bis nach Bukarest durch. Beim ersten großen Luftangriff
der Alliierten auf die rumänische Hauptstadt am 4. April 1944
kommt Sonja ums Leben.
In den Jahren im Tiraspoler Ghetto schreibt Sonja Jaslowitz
Gedichte auf Deutsch und Rumänisch, sie experimentiert auch
mit der französischen Sprache. In dem Gedicht „J’attendai“ mischt
sie diese Sprachen und verleiht somit Worten neue Bedeutungen.
Deutsch und Rumänisch waren die Sprachen ihrer Heimatstadt
Czernowitz, Französisch hat sie wohl in der Schule gelernt. Die
hier abgedruckten Gedichte thematisieren einerseits das Warten
und die Wut darüber, dass man sinnlos festgehalten wird. An¬
dererseits spricht aus vielen Texten auch die Hoffnung und die
Zuversicht eines jungen Mädchens, dass die Zeit der Internierung
vorbei gehen werde, sie verweisen auf ein mögliches Danach und
stellen Gewissheiten in Frage. Und so wollen wir hier auch das
Gedicht Marsul Transnistrieil Transnistrien-Marsch präsentieren,
ein Gedicht, dass in Stimme, Kraft und Ausdruck an die Par¬
tisanenhymne Zog nit keynmol, az du geyst dem letstn veg / Sage
niemals, dass du den letzten Weg gehst von Hirsch Glick’ erinnert.
Die Potentialitat des Materials?
Als Marianne Hirsch und Leo Spitzer im Juni 2013 in Wien
einen Gastvortrag an der Universitat Wien (im Rahmen des
Doktoratskollegs Das österreichische Galizien und sein multikul¬
turelles Erbe) mit dem Titel Die Zukunft der Vergangenheit: Bil¬
der und Worte aus Transnistrien hielten, plädierten sie für eine
literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sonja Jaslowitz’
Texten: Nur durch den aktiven Zugriff und die Beschäftigung
im Hier und Heute könnten diese Texte wieder aus dem Archiv
geholt werden und neue Lesarten herausfordern.
Bei unseren Übersetzungsversuchen mussten wir uns mit Lücken
in unserem Verständnis und Wissen auseinandersetzen und lernen,
diese Leerstellen mitzulesen. Deshalb verweisen wir in unseren
Kommentaren auf mögliche Lektüren und auf Fragen, die wir
uns beim Lesen und Übersetzen der Gedichte gestellt haben.
Die hier abgedruckten Gedichte stellen eine Auswahl dar, die
maschinegeschriebene Abschrift umfasst 19 Texte, wobei nicht
immer klar ist, wann ein Gedicht endet und ein neues beginnt.
Als Leserinnen mussten wir entscheiden, was wir als zusammen¬
gehörigen und stimmigen Text verstehen wollten.
Wir danken Harry Jarvis, Marianne Hirsch und Leo Spitzer
für das uns zur Verfügung gestellte Material!
Das 1941 künstlich eingerichtete rumänische Verwaltungsgebiet
Transnistrien befand sich im Süden der Ukraine und wurde von
den beiden Flüssen Dnjestr und Bug begrenzt. Auf Befehl des
faschistischen Marschalls Ion Antonescu wurden zwischen Sep¬
tember 1941 und Oktober 1942 hunderttausende rumänische und
ukrainische Juden und Jüdinnen (vor allem aus der Bukowina und
der historischen Region Bessarabien‘) sowie ca. 25.000 Angehörige
der Roma-Minderheit dorthin deportiert. Schätzungen gehen
davon aus, dass bis zu 120.000 Juden und Jüdinnen in Transni¬
strien durch die katastrophalen Existenzbedingungen, extremen
Hunger, Massenerschießungen, Seuchen, Zwangsarbeit und die
Gewalt und grausame Willkür nazi-deutscher Zinsatzgruppen,
rumänischer und ukrainischer Begleit- und Wachmannschaften
ums Leben kamen (beispielsweise wurden Erschöpfte und Kran¬
ke den deutschen Verbündeten zur Ermordung überstellt); die
Zahl der Opfer unter den Roma soll sich auf mindestens 11.000
Menschen, davon die Hälfte Kinder, belaufen. Die bekannten
Schriftsteller Aharon Appelfeld, Edgar Hilsenrath und Norman
Manea haben die Deportation in die Konzentrationslager von
Transnistrien überlebt und legen in ihren Werken Zeugnis da¬
von ab. Selma Meerbaum-Eisinger, gebürtige Czernowitzerin
und Altersgenossin Sonja Jaslowitz‘, starb 1942 im Arbeitslager
Michailowka an Flecktyphus; ihre Gedichte gehören heute zur
Weltliteratur.