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Dann aber verzagte ich, als ich merkte, dass es trotz aller Ver¬
trautheit einfach nicht meine Geschichte war. Ich konnte nicht
gut die Geschichte eines Mannes, der seine sieben Jahre KZ-Haft
in einer Erzählung beschreibt, als die meine ausgeben.

Mein Vater hatte mir also nicht geholfen.

Ich fragte meine Mutter, ob sie mir eine Geschichte erzählen
könnte, zum Ihema „die zweite Nachricht“, geeignet für einen
20-minütigen Film, mit der ich auf die Filmakademie aufge¬
nommen würde.

Sie sagte, sie werde schauen, ob sie ein altes, unveröffentlichtes
Manuskript fände.

Ich brauchte aber sofort die Geschichten, und griff wieder zu
den gelben Blättern meines Vaters, und plötzlich spürte ich, dass
es genau diese KZ-Geschichte war, die ich brauchte, die ihren
Schatten über mein bisheriges Leben geworfen hatte, denn mein
Vater war an den Spätfolgen seiner Haft so früh gestorben.

Er müsste bloß leben, er müsste mir diese Geschichte selbst
erzählen, und ich der Chronist seiner Erzählung sein, dann wäre
es auch meine Geschichte.

Würde mein Vater leben, er wäre nun sechsundachtzig Jahre alt.
Er würde im Fauteuil mit den Holzarmlehnen sitzen, nagelneue
Lederpantoffel anhaben, die nicht zu seinen alten Füßen passen,
aber seine Füße warm halten, was ja wichtiger ist. Er würde im¬
mer noch filterlose Zigaretten rauchen, und mir diese Geschichte
erzählen, und ich würde beschreiben, wie der alte Mann dabei die
Seite der Glut der Zigarette zwischen den Fingern nach innen hielt,
sodass sie auch in der Dämmerung von der halbkugelig gewölbten
Hand verdeckt wäre, und immer noch würde er die abgebrannten
Zündhölzer in die Zündholzschachtel zurückstecken, um keine
Spuren des im Lager in vielen Situationen verbotenen Rauchens
zu hinterlassen.

Ich beschrieb all das, zeichnete ein Bild meines alten Vaters, der
mir eine Geschichte erzählt, geprägt von Angewohnheiten, die im
Lageralltag zum Überleben notwendig waren.

Zu meiner Mutter sagte ich, ich wolle kein altes Manuskript, das
hätte ich schon vom Papa, lieber wäre mir, sie würde mir hier und
jetzt etwas erzählen, ich würde es dann schon in Worte kleiden,
aber etwas, dass sie wirklich berührt habe, in ihrem Leben.

Sie zögerte, so ist das mit den Lebenden — mein Vater hatte
nicht gezögert, sich mir zu offenbaren —, aber zugleich merkte ich,
jetzt war meine Mutter die Dichterin, die niemand kannte, die
erfolglose, abgründige, und ausnahmsweise nicht die erfolgreiche
Autorin, die uns all die Jahre nach dem Tod meines Vaters mit
ihren Büchern über Wasser gehalten hatte: Meine Schwester, mich,
ihre eigene Mutter, ihre Tante und meinen Stiefvater, der ein alter
Übersetzer und ehemaliger Filmdramaturg mit Mindestpension
gewesen war.

Mein Vater währenddessen erzählte, wie an diesem Abend, nach
dreieinhalb Stunden Appellplatzstehen, durch den Lagerlautspre¬
cher das Kommando zum Abrücken durchgesagt wurde, und dann
noch mit gleichgültiger Stimme eine Häftlingsnummer. Der junge
Bursch, auf dessen Häftlingskleidung diese Nummer aufgenäht
war, sei zögernd aus den Reihen der anderen herausgetreten. „Weißt
du“, sagte mein Vater, „es mochte ihm zum Weinen zumute ge¬
wesen sein, aber unter den Blicken, die auf ihm lagen, wurde so
etwas wie ein schwaches Lächeln daraus. Er sagte leise ‚Scheiße‘.“

Mein Vater unterbrach seine Erzählung an dieser Stelle und
blickte vor sich hin.

Dann sagte er noch einmal schr leise: „Scheiße!“ und erzählte, wie
der junge Heini Leitner sich von allen verabschiedet hatte, wissend,
er werde den Abend nicht überleben, denn zu dem Zeitpunkt
gab es einen SS-Mann, der sich tagsüber scheinbar willkürlich
die Nummern von Häftlingen aufschrieb, die ihm bei seinen
Rundgängen auf irgendeine Weise aufgefallen waren. In dieser
Zeit wurden diese Nummern dann am Abend nach dem Appell,
spätestens wenn alle in den Baracken waren, im Lautsprecher
angesagt und deren Träger zur Kommandantur beordert, wo sie
mit einer Giftspritze getötet wurden.

„Also“, sagte meine Mutter nun mit plötzlich heiserer Stimme,
„wenn du wirklich eine Geschichte hören willst, die mich seit
Jahren beschäftigt, genaugenommen, seit ich 15 Jahre alt bin,
dann hör jetzt gut zu:

Wir sangen da immer ein Lied in der Schule, also außerhalb des
Unterrichts, in den Pausen und so, zur Melodie von Schuberts
Unvollendeter. Das ging so: ‚Moritz‘“ — meine Mutter räusperte
sich und sang:

„ Moritz, du nimmst ein Bad, ach Gott wie schnell ist so ein
Jahr um!‘. Wir alle haben das gesungen, und ich fand’s einfach
lustig, und zwar haben wir das alle der Liesl vorgesungen, und
die ist ja dann nach England emigriert, als Kind, als Jugendliche,
und erst viel spater hab ich begriffen, was das fiir ein Lied war.
Es war in Wirklichkeit ein Spottlied: ,Moritz, du nimmst ein
Bad, ach Gott wie schnell ist so ein Jahr um’ sollte heißen, dass
Juden sich gerade einmal im Jahr waschen und es wieder einmal
Zeit dafür wäre.

Was mich nun immer beschäftigt hat“, fuhr meine Mutter fort,
„das ist, dass mir die Liesl niemals einen Vorwurf gemacht hat,
dafür, obwohl ich mitgesungen hab und sie als jüdisches Mädchen
damals natürlich genau gewusst hat, was das Lied bedeutet. Sie
hat mich niemals darauf angesprochen, und ich sie auch nicht.“

„Die Geschichte ist ja nicht zu Ende“, sagte ich, „du musst sie
fragen, wenn du es wissen willst, oder es abschließen.“

Meine Mutter erklärte nun sehr bestimmt, dass die Geschichte
keineswegs nicht abgeschlossen sei. Da stünde nichts zwischen
ihr und Liesl, es sei da nichts zu besprechen, es sei alles ganz
klar zwischen ihnen beiden. Und sie seien sofort, nachdem Liesl
zurückgekommen sei, wieder befreundet gewesen, als sei ihre
Freundschaft keinen Augenblick lang unterbrochen worden.

Ich wollte meine Mutter nun fragen, warum sie mir dann diese
Geschichte als Motiv für eine Arbeit zum Thema ,,Die zweite
Nachricht“ angeboten hatte, wenn doch alles gesagt sei, doch ich
merkte, dass meine Mutter schon zuviel erzählt hatte, für ihren
Begriff, und sie war in die Rolle der erfolgreichen Schriftstellerin
zurückgekehrt, die es im Griff hat, mit dem, was sie erzählen will,
und was nicht, souverän umzugehen.

Ich vermutete, dass es sie beschäftigte, nicht, das Lied gesungen
zu haben, sondern dass Liesl niemals davon gesprochen hatte, sich
aber sicherlich ebenso gut daran erinnerte. Vielleicht, so vermutete
ich weiter, wäre es meiner Mutter lieber gewesen, Liesl hätte sie
bei ihrer Rückkehr nach Österreich zur Rechenschaft gezogen,
und dann die Freundschaft fortgesetzt.

Mein Vater hob den Handrücken in Richtung seiner Lippen, um
an der Zigarette zu ziehen, ließ ihn dann aber in der Luft stehen
und sprach weiter, als habe er seine Hand vergessen:

„Der junge Mann war nach einer halben Stunde in die Bara¬
cke zurückgekehrt, er war nur, wie er sagte, verprügelt worden,

Dezember 20138 21