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seine Wunden wurden verpflegt, und dann begann einer auf der
Mundharmonika zu spielen und alle freuten sich mit ihm.

Dann, als alle gefeiert und manche zur Mundharmonika getanzt
hatten“, erzählte mein Vater, „wurde plötzlich noch einmal die
Nummer des jungen Mannes per Lautsprecher durchgesagt.“

Mein Vater beschrieb nun, wie dieser langsam seine Hosenta¬
schen leerte und in der Totenstille, die in die Baracke eingekehrt
war, seine Habseligkeiten auf den Tisch legte: Ein winziges, im
Lager fabriziertes Feuerzeug aus Messingblech und eine Zigaret¬
tendose aus Holz, mit geschnitztem Hirsch darauf, und mein
Vater beschrieb das trockene Geräusch, dass das Hinlegen der
geschnitzten Zigarettendose auf den Holztisch gemacht hatte.

Mein Vater sah plötzlich todmüde aus und erzählte mir, dass
dies übrigens der letzte Häftling gewesen war, der mit der Gift¬
spritze aufgrund der Willkür jenes SS-Mannes getötet wurde, der
hatte die Freude daran verloren und ließ sich nun etwas anderes
einfallen, das für ihn ebenso amüsant und für die Häftlinge nicht
tödlich war.

Dass mein Vater mir — nicht als Geist, aber vor meinem inneren
Auge so leibhaftig erschienen war, dass die eigentliche Geschichte
die minutiöse Beschreibung meines Vaters war, und der Art, wie
er, immer noch in tausend alltäglichen Gewohnheiten befangen,
mir eine Geschichte erzählt, war die eigentliche — meine — Ge¬
schichte geworden.

Die Prägung durch all diese kleinen Gewohnheiten, beim Rau¬
chen, beim Essen, beim Fühlen, beim Einschätzen des Gegenübers,
alle unter dem Aspekt, den Tag zu überleben, hatte ich selbst bis zu
jenem Tag fraglos übernommen gehabt, als sei es für mich selbst
notwendig, all die kleinen Spielregeln eines KZ-Tages einzuhalten,
um ihn zu überleben. Das war mir durch die physische Ausdrucks¬
kraft meines Vaters während des Geschichtenerzählens bewusst
geworden, die ich doch genau genommen zu seiner schriftlich
hinterlassenen Geschichte dazuerfunden hatte.

Was die Geschichte meiner Mutter betraf, so brauchte ich für
die Aufnahmsprüfung noch eine völlig überraschende Wendung,
um zu beweisen, dass ich Stories schreiben konnte, in denen man
bereits hörte, wie die Kinokassen klingeln. So schrieb ich, dass
Liesl damals gar nicht nach England hatte gehen wollen, obwohl
es noch möglich gewesen war, weil sie meinte, so schlimm würde
es schon nicht werden. Sie werde schon nicht sterben.

Aber als dann ihre beste Freundin das Lied mitsang, und noch
dazu, ohne etwas Böses im Sinn — das wusste das Mädchen ganz
genau —, da beschloss sie, doch nach England zu fahren. Sie sagt
heute, sie verdanke ihrer Freundin ihr Leben, weil die das Lied
mitgesungen hat.

Ich gab die Mappe ab.

Jetzt hatte ich Zeit. Ich fuhr nach Altsimmering, wo Liesl und
Bobby lebten und wurde herzlich empfangen.

Ich wollte euch was fragen, sagte ich. Ich überlegte, wie ich es
formulieren sollte, da unterbrach mich Liesl:

„Also los, sag schon!“ Ihr Ton machte mir klar, dass sie ganz
genau wusste, dass ich etwas fragen wollte, was mir heikel schien,
und dass sie ein Herumreden höchstens verärgern würde.

„Du weißt“, sagte Bobby nun, „dass wir deiner Mutter und den
Bekannten ihrer Eltern heute noch dankbar dafür sind, dass wir
damals, als wir emigrierten, unsere Möbel und praktisch alle per¬
sönlichen Gegenstände bei ihnen einstellen konnten und uns die
dann nach dem Krieg auch ganz selbstverständlich zurückgaben.

22 _ ZWISCHENWELT

Das war damals nicht üblicherweise zu erwarten, und wir waren
wirklich froh, dass wir ein paar vertraute Stücke wiederhatten, als
wir mit sehr gemischten Gefühlen nach Österreich zurückkehrten.
Und es hat uns schr geholfen, hier — nach der Ermordung von
Liesls Eltern und vielen anderen aus unserer beiden Familien —
wieder gefühlsmäßig Fuß zu fassen.

Vor allem aber, dass da deine Mutter und ihre Freundschaft
waren, die uns erwarteten.“

Mutiger geworden fragte ich, ob Liesl das Lied „Moritz, du
nimmst ein Bad“ kenne: „Moritz, du nimmst ein Bad, ach Gott
wie schnell ist so ein Jahr um!“ Ich erzählte die Geschichte, wie
ich sie von meiner Mutter gehört hatte. Dass sie sicher sei, dass
Liesl im Unterschied zu ihr damals genau gewusst hätte, dass es
ein Spottlied über Juden gewesen sei.

Liesl lachte. Ich kannte diese Art zu lachen bis zu dem Tag
nicht, und kann es nicht beschreiben. Bitter war es nicht, auch
nicht erfreut, es klang aber auch nicht abgeklärt. Mir kam vor, es
schwang eine Hoffnung mit, die ich mir nicht erklären konnte.
Kurz darauf sollte ich erfahren, dass es nicht Hoffnung, sondern
tatsächlich Dankbarkeit war, für etwas, das sich vor Liesls Emi¬
gration abgespielt hatte, wenn auch nicht aus dem Grund, den
ich für die Aufnahmsprüfungsmappe erfunden hatte.

In der Filmakademie war meine Mappe angenommen worden,
und ich musste zur zweiten der vier Runden: der mündlichen
Befragung zu meinen abgegebenen Arbeiten durch alle anwe¬
senden Professoren.

Mir fiel auf, dass der damalige Leiter der Filmakademie immer
wieder den Namen meines Vaters nannte und fragte, ob dies
tatsächlich mein leiblicher Vater sei, was ich bejahte.

Als mir mitgeteilt wurde, dass das Gespräch nun beendet sei,
meldete sich Wolfgang Glück, der nach meinem Vater gefragt
hatte, noch einmal zu Wort. „Ich möchte noch auf eine Koinzidenz
hinweisen“, sagte er. Er nahm ein kleines, silbernes Zigarettenetui
aus der Brusttasche, öffnete es und entnahm ihm einen Zettel:
„Dieses Zigarettenetui hat meine Mutter bis zu ihrem Tod immer
bei sich getragen“, sagte er, „und seither trage ich es immer bei
mir. Drin liegt dieser Zettel, auf dem steht: Von Kurt Mellach aus
dem KZ gebracht, der es dort von einem Freund erhalten hat.“ (Es
waren ungefähr diese Worte, ich habe sie aus dem Nachklang
rekonstruiert, da mir, als ich den Namen meines Vaters hörte, der
auf diesem Zettel stand, fieberheiß wurde und die Stimme des
Professors weit weg war, bis mich das Schweigen der Professoren
wieder zurückholte, die nichts weiter sagten.

„Das ist ja die Zigarettendose aus der Geschichte aus meiner
Aufnahmsprüfungsmappe“, stammelte ich.

Diese Geschichte ist wahr, und kurz bevor ich mein Studium
auf der Filmakademie abschloss, erzählte ich Wolfgang Glück, dass
ich die Geschichte meines Vaters für die Aufnahmsprüfung hatte
abschreiben wollen. Und dass es vermutlich nicht die Tabaksdose
aus der Geschichte sei, die er Tag für Tag mit sich trage, denn die
sei ja aus Holz gewesen, mit einem geschnitzten Hirsch darauf.

„Ja, das steht so in der Geschichte“, meinte Wolfgang Glück.
„Aber Film ist nicht die Wirklichkeit, sondern ein Abbild davon,
das Licht und Schatten von Ereignissen auf Zelluloid eingebrannt
haben, und das nun selbst als Licht und Schatten durch eine Lampe
auf eine Leinwand geworfen wird — ein Schattenspiel eigentlich,
oder ein Lichtspiel, aufgeführt in einem Lichtspieltheater, wie es
ja auch heißt. Das ist ja ein viel schöneres Wort als ‚Kino‘.

Dein Vater hat vielleicht erfunden, dass die Dose“ — er hob
die Metalldose in seiner Hand - „aus Holz war, weil dein Vater